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Der Wolf
In Aachen lebte einmal ein alter Uhrmacher, der hieß "Andreas", und sein Haus stand in der Körbergasse. Es war ein schmales Haus mit kleinen Fenstern. Wenn man vorüberging, hörte man die verschiedenen Uhren schlagen, und jede hatte einen anderen Ton. "Es ist ein verzaubertes Haus", sagten die Leute, "und die Uhren sind Hexenuhren!" Darüber musste Andreas lachen, O, er war ein großer Meister. Was aus seinen Händen hervorging, war immer etwas Besonderes. Er hatte weder einen Gesellen noch einen Lehrling. Solange man sich entsinnen konnte, bewohnte er dieses Haus ganz allein, bis zu jenem Tage, wo das kleine Mädchen hinzukam, das Veronika hieß. Nein, man wusste nicht, wo er es her hatte und er sprach auch nicht darüber. Er sprach überhaupt selten, nur dann, wenn er seine Uhren verkaufte. "Hier habt ihr die Uhr", sagte er, "seid vorsichtig mit ihr, sie lebt wie ein Mensch, tut ihr nicht weh, lasst die Räder nicht verstauben, das verträgt sie nicht. Und sagt nur gar kein böses Wort in dem Raum, wo sie hängt. Macht ab und zu ein wenig Musik, wenn ihr könnt, oder singt ein Lied, dann schlägt sie noch einmal so schön!" Seht, der Uhrmacher wollte die Menschen durch seine Uhren besser machen, aber das verstanden die Menschen nicht. Wenn die Sonne schien, saß die kleine Veronika in dem winzigen Garten hinter dem Haus und spielte mit Glasperlen.
Man erzählte sich, dass sie
blind sei, aber es wusste niemand genau. Es wagte sich auch
niemand, mit ihr zu sprechen. Nur der Uhrmacher, der für
sie sorgte, erzählte ihr am Abend von seinen Uhren. Er tat
dies gewöhnlich in der Dachkammer, wo all die Uhren hingen,
die er angefertigt hatte. Gleich nebenan aber schliefen die Kinder
des Porzellanhändlers, und die Wand war dünn. Titus,
der älteste, der nicht immer gleich einschlafen konnte, lauschte
den Worten des Uhrmachers, und er war vielleicht der einzige Mensch,
der ihn verehrte. "Das hier ist meine Lebensuhr", sagte
Andreas zuweilen, "wenn sie verstummt, bin ich tot. Und diese
hier ist die Uhr
meiner Kindheit, immer wenn sie schlägt,
fällt mir etwas aus meinen Kindertagen ein. Eben sah ich
vor meinen Augen ein Spitzentuch, weiß, mit Blumen, Sternen
und Vögeln darin. Meine Mutter trug es, wenn sie in die Stadt
ging. Sie sah darin aus wie ein junges Mädchen. Einmal verlor
sie es, und ich sah, wie sie weinte. Ich war traurig, und ich
nahm mir vor, es zu suchen. Ich lief durch alle Straßen,
die ich kannte, aber ich fand es nicht. Da begegnete mir ein alter
Mann in einem langen, schwarzen Mantel, der hob seine Hand, als
er mich erblickte und rief meinen Namen.
"Aha", sagte er, "du suchst
das Spitzentuch deiner Mutter, hier ist es!" Und wahrhaftig,
er zog es aus seiner Manteltasche und ich griff danach. "Einen
Augenblick; mein Närrchen", sagte der Fremde lachend,
"so gebe ich es dir nicht heraus, ich verlange etwas dafür.
Höre gut zu. In kurzer Zeit wirst du eine kleine Schwester
haben, deine Mutter wird ihr ein ganz dünnes, goldenes Kettchen
um den Hals hängen. Dieses Kettchen muss ich haben."
"Ja, gewiss", sagte ich und
nahm das Spitzentuch, denn an die kleine Schwester glaubte ich
nicht. - Als aber einige Monate vergangen waren, bekam ich wirklich
eine kleine Schwester und ich fürchtete mich sehr. Ich sah,
wie die Mutter das feine, goldene Kettchen aus der Schublade nahm,
und da wusste ich, dass der Fremde der Teufel gewesen
war. Doch da fiel mir mein Freund ein. Dieser Freund war kein
Mensch, ich wusste auch nicht, warum und wieso er es geworden
war. Es war der Wolf aus Erz mit dem Loch in der Brust, der im
Domeingang auf dem marmornen Stein steht. Zu ihm ging ich also,
und meine Augen klagten ihm mein Leid. Da sah ich einen kleinen,
weißen Engel dicht über mir, er trug etwas Rotes und
Leuchtendes in seinen Händen, das einer Flamme ähnlich
war. Er schwebte in die offene Brust des Wolfes hinein, und sogleich
bewegte das Tier sich und nickte mit dem Kopfe. "Ich will
dir helfen", sprach der Wolf, "höre zu, höre
auf jedes Wort, denn viele kann ich nicht sprechen. Suche ein
Ding, einen Gegenstand, in dem viel Böses eingeschlossen
ist, Tränen, Blut, Hass, Zorn.
Diesen Gegenstand wirf
dem Teufel an den Kopf, und er kann deiner kleinen Schwester nicht
schaden!" 0, wie sollte ich das verstehen. Ich ging mutlos
nach Hause und setzte mich schweigend vor einen kleinen Schrank,
der gläserne
Türen hatte und dahinter es viel zu sehen
gab, kleine Feen aus Porzellan, Kästchen mit Messingbeschlägen,
schimmernde Perlen und Stickereien aus Goldfäden. Da entdeckte
ich plötzlich wie zum ersten Mal einen Dolch in einer Scheide
aus Elfenbein, sehr sorgfältig geschnitzt. Löwen, Rankwerk
und Blumen befanden sich darauf, und ich hörte die Stimme
des Wolfes mächtiger noch als eben in der Vorhalle des Domes.
"Suche ein Ding, in dem viel Böses eingeschlossen ist,
Tränen, Blut, Hass, Zorn!" - "Nun wusste
ich, dass ich diesen Gegenstand gefunden hatte."
So sprach der alte Uhrmacher Abend für
Abend und immer etwas anderes. "Er ist wirklich ein Zauberer",
dachte Titus, "0, er ist wirklich ein Zauberer!"
Einmal, in der Mittagssonne' saß Titus
auf der niedrigen Gartenmauer, und er sah, wie Veronika Glasperle
um Glasperle durch einen Faden zog. "Wozu machst du alle
diese Ketten?" fragte er plötzlich, und das Mädchen
fuhr leicht zusammen. "Ich muss für jede Uhr, die
Andreas anfertigt, eine Kette machen", antwortete sie leise,
"sonst erzählt die Uhr keine Geschichte. Wer bist du?"
"Ich bin Titus", antwortete der Junge, "soll ich
dir aus unserem Laden die Porzellannixe holen? Sie ist die schönste
von allen und hat so schwarze Haare wie du." "Habe ich
schwarze Haare?" fragte Veronika, "sag mir, wie ist
das?" Da erschrak Titus, denn er merkte wohl, dass sie
blind war. "Schwarz ist die Nacht", sagte er, "am
Tage, wenn die Sonne scheint, Ist es hell." "Du hast
wohl richtige Augen", sagte Veronika. "Was redest du
da, du Unglückswurm"' rief der Uhrmacher vom Fenster
her, "willst du ihr den einzigen Reichtum, den sie hat, nehmen?"
Von diesem Tage an hasste Titus den Uhrmacher, und er fragte
den Wolf, ob es kein Mittel gebe, einen Blinden sehend zu machen.
Da schwebte der kleine Engel wieder in die Brust aus Erz, und
dieses Mal leuchtete es in seinen Händen blau und violett.
"Du kannst das blinde Mädchen sehend machen", sagte
der Wolf, "wenn du in der Diele eures Hauses auf den Stein
springst, der so gelb und strahlend aussieht. Bedenke aber, wenn
du in das Haus des Uhrmachers gehst, halte den Pendel der Uhr
an, worauf ein Schiff zu sehen ist." Ach, der Wolf sprach
eine sonderbare Sprache. Ja, das ist wohl ein Unterschied, ob
man einen Menschen oder einen Wolf zum Freund hat. Titus ging
nachdenklich in die Diele des Hauses und sprang dann mit voller
Wucht auf dem gelben Stein, dieser zersprang, und darunter erblickte
der Knabe wunderbare Edelsteine in allen Farben. Mitten darin
aber saß ein stein- altes Männlein, das auf seinem
Kopf einen sonderbaren, grünen Turban trug. Es sprach mit
seiner brüchigen, heiseren Stimme:
"Nimmst du alle Steine, bist du reich
und mächtig. Nimmst du nur einen, wird Veronika sehend, das
eine ist so gut wie das andere."
Ohne zu überlegen nahm Titus einen blauen,
ovalen Stein, und das Männlein lachte dazu. Ehe Titus alles
überlegen konnte, lag der gelbe Stein wieder dort, wo er
hingehörte. In der Mitte war nur ein feiner Sprung zu sehen,
sonst nichts.
Titus brachte den Stein zu einem Goldschmied,
und es währte nicht lange, so hielt er einen wunderbaren
Ring in seiner Hand. Diesen Ring wollte er Veronika schenken.
Als er jedoch ihren feinen Finger mit der Öffnung des Ringes
verglich, sah er ein, dass der Ring zu groß sei. Er
hatte aber nicht den Mut, noch einmal zu dem Goldschmied hinzugehen,
und er sagte zu sich selbst:
"Ich will noch ein Jahr warten, vielleicht
passt dann der Ring." So wartete der Knabe. Es verging
ein Jahr, es vergingen mehrere Jahre. Er trug den Ring an seiner
eigenen Hand, um ihn nicht zu verlieren, und Veronika lebte wie
eine fremde Königin in dem Nachbargarten. Der Uhrmacher wachte
über sie, wie man über ein Geschmeide wacht. Aus seinem
engen Haus wurde eine Welt, und aus dem Garten ein Paradies für
Veronika. Die Türen waren sorgfältig verschlossen. Alles,
was von draußen her kam, hielt Andreas geschickt zurück.
Er baute eine Mauer von Uhren um sie her, Uhren
und abermals Uhren. Ihre Klänge waren wie Lieder, wie Gespräche,
unaufhaltsam wie die Wogen des Meeres. Und doch gab es etwas,
woran Andreas nicht dachte. Er vergaß die Augen des jungen
Titus. Jene glänzenden, dunklen Blicke, die man nicht abwehren
konnte. Es kam der Tag, an dem Veronikas Ring auch für den
kleinsten Finger des jungen Mannes zu eng wurde, und die unsichtbare
Pforte zwischen den beiden Gärten begann sich zu bewegen.
Da Titus nicht wusste, wie er in das Haus des Uhrmachers
gelangen konnte, stieg er an einem Abend über die Mauer
und stand so plötzlich vor Veronika. Er
sagte ihren Namen ganz leise, sie hob ihr Gesicht zu ihm auf und
lächelte. "Sind meine Haare noch schwarz?" sagte
sie. Und Titus nahm schnell ihre Hand in die seine und drückte
den Ring so heftig hinein, dass sie leise aufsehne. "Was
machst du?" rief Andreas, "du Unglückswurm, du
Unglückswurm!" Die Uhr, an der er arbeitete, entfiel
seinen Händen, und die winzigen Räder fielen in das
Gras. "0, ich sehe", jubelte das Mädchen, "ich
sehe seine Augen, seine Haare, wie schön er ist, - wie schön!"
Der alte Uhrmacher sank in sich zusammen, und niemand achtete
mehr auf ihn. Als die Sterne den Himmel bedeckten, schlich Titus
sich auf den Speicher hinauf und hielt den Pendel der Uhr an,
jener Uhr, worauf das Segelschiff zu sehen war. Am nächsten
Tage starb der Uhrmacher. - Kurz darauf zog Veronika in das Haus
ihres Mannes, und damit wäre die Geschichte eigentlich zu
Ende, denn die Beiden liebten einander sehr, aber hört, es
geht noch ein wenig weiter. Manchmal, wenn Veronika sich alleine
glaubte, sah sie scheu in den Garten hinein, der ihr einmal gehörte
hatte, und Titus sah diesem Blick nach. Er hatte das Haus und
den Garten verkauft, um die Schulden seines Vaters zu bezahlen.
Die Musik der Uhren war verstummt, und Veronika sah mit ihren
großen Augen das Schöne wie das Hässliche.
Ihre weißen Hände taten nun jede Arbeit, weit lag
die Zeit zurück, wo nur Blumen und Glasperlen sie berührten.
Titus dachte an die Worte des Uhrmachers. "Willst du ihr
den einzigen Reichtum, den sie hat, nehmen!" - Trostlos voll
Traurigkeit ging er in den Dom und sah in die Kuppel hinein. Da
war ihm, als schwebe ein kleiner Engel durch den Raum, er folgte
ihm und stand plötzlich vor dem Wolf, dem Freund seiner Kindheit.
"Aha, da bist du", sprach der Wolf, "wie unachtsam
du warst, gehe schnell in die Stadt und erwerbe die Uhren des
Andreas wieder zurück! Wie soll Veronika atmen können
ohne sie!" Titus lief hinaus und holte Pferd und Wagen, er
nahm alles ersparte Geld aus seiner Tasche, um das zu tun, was
der Wolf ihm gesagt hatte.
Spät am Abend kam er nach Hause zurück.
Veronika rief ihm schon entgegen mit dem Kind auf dem Arm, als
er mit seinem schwer beladenen Wagen in die Straße einbog.
"Die Uhren!" rief sie, "bei Gott, die Uhren sind
wieder da!" Sie hob das Kind auf den Wagen hinauf, das seine
kleinen Hände nach den glänzenden Messingverzierungen
ausstreckte. Mitten darin, um einen Hauch dunkler geworden, tauchte
das Segelschiff auf. - Und die Uhren schlugen, sie lebten, jede
hatte einen anderen Ton. Ihre Klänge waren wie Lieder, wie
Musik, und Veronika schloss die Augen und lauschte. |
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