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Die Schlange in der Amphore
Es war einmal ein Fischer, der fuhr jeden Tag zum Fischen aufs Meer Eines Tages aber, als er sein Netz herauszog, merkte er, dass es sehr schwer war. Er freute sich und dachte, dass er einen großen Fisch gefangen habe. Aber als er das Netz ganz herausgezogen hatte, merkte er, dass er eine Amphore - einen Krug - erwischt hatte. »Nun«, sprach er bei sich, »ein schwerer Krug, das ist auch nicht schlecht. Sicher steckt Gold darin oder Silber, denn er ist versiegelt.« Und er nahm den schweren Krug und trug ihn an Land. Dort setzte er ihn ab und entfernte das Siegel. Da schoss eine große, dicke Schlange heraus, ringelte sich dem Mann um den Hals und sagte: »So, jetzt erwürge ich dich, und anschließend werde ich dich fressen.« - »Halt«, rief der Fischer, »ist das die Dankbarkeit dafür, dass ich dich gerettet habe?« - »Da ist nicht die Frage von Dankbarkeit«, sagte die Schlange, »da ist nur die Frage von Vergeltung: du hast mich in das Meer hineingeworfen, und so bist du schuldig.« - »Gott soll mich strafen«, sagte der Fischer, »wenn ich jemals dich oder irgendeine Schlange ins Meer geworfen habe. Wie kannst du nur so etwas behaupten?« - »ja«, sagte die Schlange, »es kann schon sein, dass nicht du es warst, der mich in die Amphore eingesperrt hat, sondern ein anderer Mensch. Für mich aber gilt das gleich. Du musst eben dafür büßen, was ein anderer deines Geschlechts an mir verbrochen hat.« - »Das ist ungerecht«, sagte der Mann, »denn bin ich auch ein Mensch, so habe ich doch mit anderen nichts gemein. Ich appelliere ans Gericht!« - »Gut«, meinte die Schlange, "lassen wir einen Richter sprechen, aber keinen Menschen, denn menschliche Richter sind alle bestechlich. Das erste Tier, dem wir begegnen, soll unsere Sache entscheiden.« Der Fischer war damit einverstanden, und die beiden gingen über Land, nachdem der Fischer die Amphore auf die Schulter genommen hatte. Nachdem sie eine Welle gegangen waren, begegnete ihnen ein Fuchs. »He, ihr beiden, wo geht ihr hin?« fragte der Fuchs. Da sagte der Fischer: »Ich und diese Schlange haben einen Streit, und wir suchen einen Richter, ein Tier, das unsere Sache entscheidet. - »Da seid ihr bei mir beim Richtigen«, sagte der Fuchs, »denn ich habe Rechte studiert und verstehe mich auf solche Fragen. Aber was gebt ihr mir, wenn ich euren Streit kläre?« - »Ich«, sagte die Schlange, »gebe dir die Kleider dieses Mannes, wenn ich ihn gefressen habe, denn ich bin im Recht und werde gewinnen.« - »Und was bietest du?« fragte der Fuchs den Fischer. »Ich biete dir den Fang des morgigen Tags«, sagte der Fischer. Der Fuchs bedachte sich, dann sagte er: »Also wie lautet euer Fall?« - »Ich habe gefischt«, sagte der Mann, »und da habe ich hier diese Amphore mit dem Netz aus dem Meer gezogen. Und als ich das Siegel entfernt habe, ist diese Schlange herausgekommen, und nun will die Undankbare mich fressen.« - »So«, sagte der Fuchs, »und was sagst du dazu, Schlange?« - »Mich hat ein böser Mensch in diese Amphore gesperrt, hat sie zugemacht und mich ins Meer geworfen. Und da dieser Fischer genauso ein Mensch ist, soll er dafür büßen. « - »ja«, sagte der Fuchs, und er zwinkerte dem Fischer zu, »der Fall liegt schwierig, und ich kann ihn nicht entscheiden, wenn ich ihn nicht in allen Einzelheiten verfolgen kann. Schlange, wer sagt, dass du, die du so groß bist, überhaupt in diese Amphore hineinpasst?« - »Und ob ich in diese Amphore hineinpasse!« sagte die Schlange. »Das werde ich dir gleich zeigen!« Und sie kroch in die Amphore hinein und streckte den Kopf heraus: »Nun, hast du dich überzeugt, dass ich darin Platz habe?« - »Nein«, sagte der Fuchs, »dein Kopf schaut noch heraus.« Da zog die Schlange den Kopf hinein. Der Fuchs aber sagte zu dem Fischer: »So, nun gib den Deckel darauf und versiegle die Amphore, damit ich sehen kann, wie alles sich von Anfang an verhalten hat. « Und der Fischer tat das. Dann sagte der Fuchs: »Nun bring die Amphore dorthin, wo du sie gefunden hast!« Der Fischer nahm den Krug auf die Schulter und ging zu seinem Boot zurück, und der Fuchs lief neben ihm her. Dann stiegen sie auf das Boot und fuhren auf das Meer hinaus. »Hier ungefähr«, sagte der Fischer, »war es, wo ich die Amphore herausgezogen habe. Ganz genau kann ich mich nicht erinnern.« »Wer im Großen zuverlässig ist«, sagt der Fuchs, »der darf im Kleinen irren. Wirf die Amphore ins Meer!« Da nahm der Fischer die Schlange mit ihrem Behälter und warf sie ins Meer hinunter. »Gut«, sagte der Fuchs, »der Fall ist schwer zu klären. Wir wollen ihn auf sich beruhen lassen. Dir aber gebiete ich als Richter, dass du an diesem Platz nicht mehr fischst, denn du hast sonst nur Scherereien davon.« Der Fischer versprach es. Dann fuhr er zu einem andern Grund, warf seine Netze aus und gab dem Richter alle Fische, die er dort gefangen hat. Zwei und zwei machen vier, Wer es besser weiß, der sag es mir! |
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Dieses Märchen wurde mir von Dieter [chax@wtal.de] zur Verfügung gestellt. |