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Ali und die Schlange


Ali, von dem unsere Geschichte erzählt, ist ein kleiner Junge von 10 Jahren. Er hat große dunkle Augen und pechschwarzes Kraushaar. Seine Haut ist braun, denn Ali stammt aus Afrika, aus einer Stadt am Rande der großen Wüste. Ali liebt seine Stadt mit den vielen Menschen, mit den Eseltreibern, den bunten Marktständen und dem quirligen Treiben in den engen Gassen. Dieses Häusergewirr ist immer in ein trübes, schummriges Licht getaucht. Zwischen den Dächern sind dichte Schilfmatten über die Gassen gespannt damit die glühende Sonne nicht durchdringen kann. Abends, wenn die letzten Sonnenstrahlen auf die gelbbraune Stadtummauerung fallen, ist die Stadt besonders schön. Wie in Gold getaucht leuchten dann die vielen Türmchen und Zinnen. Durch die hohen Stadttore, die alle die Form von riesigen Schlüssellöchern haben, strömen die Menschen auf die weiten Plätze vor der Stadtmauer. Frauen und Männer tragen lange farbige Gewänder und alle sehen aus, als gingen sie zu einem Fest.
Alis Vater war vor drei Jahren auf der Wüstenstraße draußen vor der Stadt von einem Auto überfahren worden. Alis Mutter ging danach mit ihren drei Kindern wieder zurück in ihr Elternhaus. Seitdem leben sie zusammen mit dem alten Großvater mitten in der Stadt in einem winzigen Haus, das nur ein geräumiges Zimmer hat. Kochen und essen, waschen und spülen alles spielt sich in diesem einzigen Raum ab. Zum Schlafen legen sich alle hintereinander auf die ringsum an den Wänden verlaufende Sofabank. Es ist ein sehr bescheidenes Leben, aber alle sind zufrieden, wenn sie nur jeden Tag etwas zu essen haben.

Alis Großvater ist Schlangenbeschwörer. Die Familie lebt von dem, was er auf dem Markt verdient. Weil der Großvater schon alt ist und außerdem nicht mehr gut laufen kann, muss Ali ihn immer begleiten und ihm bei seiner Arbeit helfen. Ali würde viel lieber in die Schule gehen und lesen und schreiben lernen; dann würde er so klug werden, dass er eines Tages für seine Familie sorgen könnte. Seine Mutter könnte wieder lachen und den kleinen Schwestern würde er hübsche Kleider kaufen. Der Großvater bräuchte nicht mehr auf den Markt humpeln, um mit seiner Flöte die Schlange zu beschwören. Aber Ali darf nicht zur Schule gehen, denn er muss arbeiten und so bleibt alles ein schöner Traum.
Jeden Morgen, nachdem der Gebetsausrufer, der Muezzin, zum zweiten Mal vom Minarett oben zum Gebet gerufen hat, geht der Großvater in seinem langen Gewand, das man in Alis Heimat Kaftan nennt, zur Moschee um zu beten. Während der Großvater seine Morgenandacht verrichtet, hat sich Ali zu Recht gemacht. Er hat ebenfalls seinen Kaftanmantel mit der Zipfelmütze am Rücken übergezogen und ein buntes Käppi auf seine dunklen Locken gestülpt. Sobald der Großvater zurückkommt, nimmt Ali eine lederne Schale, einen Holzschemel und wirft sich den kleinen Teppich über die Schultern. Zuletzt holt er unter dem Sofa die Kiste mit der Schlange hervor und übergibt sie dem Großvater. Ali würde die Kiste gerne selber tragen, aber der Großvater findet, dass Ali noch zu klein ist. So ausgerüstet gehen die Beiden hinüber auf den Marktplatz. Es ist wichtig, dass sie immer an der gleichen Stelle ihre Sachen aufstellen, denn die Kartenleger, die Zauberer, die Gewürzhändler, die Dattelverkäufer, sie alle haben ihren angestammten Platz. Sie können sehr böse werden, wenn man sich nicht daran hält. Ali breitet also seinen Teppich aus und stellt den Schemel daneben. Bevor der Großvater sich setzt, zieht er aus den weiten Taschen seines Kaftans eine Flöte hervor. Er probiert einige Töne aus und gibt dann Ali mit den Augen einen Wink, die Kiste zu öffnen. Vorsichtig schiebt Ali den Riegel zurück und hebt den Deckel einen spaltbreit hoch. Durch den schmalen Lichtstreifen, der jetzt ins Innere der Kiste fällt, erwacht die Schlange und beginnt sich räkeln und zu winden. Das ist der Augenblick vor dem Ali immer ein wenig bang ist. Die Schlage, es ist eine Kobra und heißt Leila, ist giftig und wenn sie lange eingesperrt war, ist sie besonders angriffslustig. Ali schlägt mit einer raschen Bewegung den Deckel zurück und der breite, flache Kopf der Kobra mit den seitlich gerichteten Augen reckt sich aus der Kiste. Sobald der Großvater mit seinem Flötenspiel beginnt, richtet sich die Schlange auf. Eine Kobra kann ihren Kopf fast auf halbe Armlänge über den Boden erheben. Das sieht sehr bedrohlich aus. Wenn dann der Großvater seiner Flöte immer schnellere und schrillere Töne entlockt, sieht man plötzlich die gespaltene schwarze Zunge aus dem Schlangenmaul hervor schießen. Zum Rhythmus der Töne beginnt die Kobra den aufgerichteten, furchterregenden Kopf ruckartig vor und zurück zu stoßen. Inzwischen haben sich viele Zuschauer eingefunden, die gespannt und auch ein wenig ängstlich das Schauspiel der zuckenden Schlange beobachten. Ein paar Mutige treten so nahe heran, dass sie die gelben Augen von Leila deutlich sehen können. Sobald die Schlange jedoch eine heftige, ruckartige Bewegung macht, weichen die meisten Zuschauer mit einem Aufschrei zurück. Ali hat sich inzwischen mit der Lederschale unter die Zuschauer gemischt. Er bittet höflich um eine kleine Gabe. Die meisten legen ein paar Münzen in die Schale, aber es gibt auch welche, die sich im Gedränge davon stehlen. Das ärgert Ali, denn das gesammelte Geld ist das einzige, was seine Familie zum Leben hat.
Wenn um die Mittagszeit die Sonne auf den Marktplatz herunterglüht verlassen die meisten Händler den Markt und ziehen sich in die schattigen Gassen zurück. Auch Ali und sein Großvater gehen nach Hause. Das Geld und die Kiste mit der Schlage nehmen sie mit; den Teppich und den Schemel lassen sie am Platz zurück, denn am späten Nachmittag geht die Arbeit weiter. Es ist keine schwere Arbeit und häufig langweilt sich Ali, vor allem wenn keine Besucher kommen. Dann sitzt der Großvater auf dem Schemel und döst vor sich hin. Ali hockt daneben und muss auf Leila aufpassen, die zusammengeringelt in ihrer Kiste liegt. Aber manchmal, wenn Ali das Gefühl hat, dass der Großvater richtig schläft, klappt er leise den Deckel der Schlangenkiste zu und schleicht sich davon. Dann geht er hinüber zum Märchenerzähler, der am Rande des Marktes auf einer kleinen Mauer sitzt. Zu seinen Füßen hat der Märchenerzähler einen buntgewebten Teppich ausgebreitet, auf dem sich die Zuhörer niederlassen können. Meistens sitzen Männer oder Buben auf dem Teppich, Frauen sieht man selten, nur ab und zu bleibt eine im Vorübergehen stehen, um zuzuhören. Alle Geschichten hat der Märchenerzähler in seinem Kopf, deshalb hält er meistens die Augen geschlossen und spricht mit einer sehr geheimnisvollen Stimme. Er berichtet von Menschen, die durch einen übernatürlichen Zauber in Tiere verwandelt wurden. Er erzählt von Sindbad dem Seefahrer und von seinen Abenteuern und von Ali Baba, der die 40 Räuber in den Berg einschließt und weil sie das Losungswort „Sesam öffne dich!“ vergessen haben, kommen sie nicht mehr heraus. Eine Geschichte findet Ali besonders spannend, das ist die von dem schlimmen Wüstenfürsten, der immer nachts die Karawanen überfallen und beraubt hatte. Kostbaren Schmuck und herrliche Edelsteine, feinste Teppiche, Kristallvasen, vergoldete Schalen und Krüge brachte der Barbar von seinen Raubzügen mit nach Hause. Mitten in der Wüste, wo ihn keine Polizei und keine Verfolger erreichen konnten, baute er sich einen Palast, in dem er seine Schätze aufbewahrte. Aber eines Nachts erhob sich ein gewaltiger Sandsturm, der viele Tage über die Wüste fegte und alles unter sich begrub. So wurde auch der Palast des gemeinen Räubers mit allen seinen Schätzen vom Wüstensand verschüttet. Weil aber niemand weiß, wo dieser Palast einmal gestanden hat, rätseln die Leute und es geht das Gerücht, dass er unter einer der großen Sanddünen begraben sei.
Von den Geschichten des Märchenerzählers ist Ali immer ganz benommen. Gerne würde er noch weiter zuhören, aber er muss wieder auf seinen Platz zurück, bevor der Großvater aufwacht, denn der kann sehr zornig werden, wenn Ali nicht da ist und niemand die Schlange bewacht.
So vergeht ein Tag nach dem anderen. Doch eines Morgens, die beiden haben wie immer auf dem Marktplatz ihre Sachen aufgebaut, bemerkt Ali, als er die Schlangenkiste öffnet, dass sie leer ist. Er erschrickt so heftig, dass er für einen Augenblick das Gefühl hat, sein Herz steht still. Wo ist Leila? Wo ist die Schlange?
„Großvater“, flüstert Ali dem Alten zu, der bereits begonnen hat auf seiner Flöte zu spielen, „Großvater, sie ist weg, stell dir vor, Leila ist nicht in der Kiste!“
Mit einem Ruck steht der Großvater auf. „Was sagst du da?“ Er hebt wütend den Schemel hoch und schlägt den Teppich zurück. Warum hast du nicht besser aufgepasst!“ schimpft er den Buben. „Hab ich dir nicht gesagt, dass du die Schlange bewachen musst wie ein Stück Gold. Wahrscheinlich hast du wieder vor dich hingeträumt und nicht bemerkt, dass der Deckel nicht richtig verschlossen war. Hundertmal habe ich es dir gesagt, wie wichtig es ist, dass der Deckel immer gut verriegelt sein muss, aber du hast ja immer die Gedanken wo anders“.
Es hagelt nur so Vorwürfe und Beschuldigungen und Ali wird immer kleinlauter und beginnt zu weinen. „Großvater sei nicht mehr böse, ich werde gleich nach Hause gehen und nachschauen, vielleicht ist sie dort. Es könnte doch sein, dass sie aus der Kiste geschlüpft ist und sich irgendwo unter dem Sofa verkrochen hat“.
Ali rafft mit beiden Händen seinen langen Kaftan hoch und rennt nach Hause. Als er die Türe öffnet stammelt er kurz ein „Salam al eikum“. Dann kniet er sich auf den Boden, tastet mit beiden Händen den Teppich ab und kriecht hinter das Sofa. Unter Tränen flüstert er immer wieder „Leila, Leila, wo bist du, komm doch aus deinem Versteck, bitte, bitte, komm doch!“
Die Mutter schaut ihm eine Weile fassungslos zu. „Was ist? Du suchst die Schlange?“ Ali schaut sie mit einem verzweifelten Blick an. „Sie ist nicht mehr da, Mama. Die Kiste war leer, als ich sie aufgemacht habe. Sie muss hier sein. Bestimmt ist sie aus der Kiste geschlüpft und hat sich hier verkrochen“. Die Mutter beginnt nun zusammen mit Ali zu suchen. Die beiden kleinen Schwestern müssen währenddessen in der Mitte des Zimmers stehen bleiben. Die giftige Schlange könnte, wenn sie plötzlich irgendwo hervor schießt, sehr gefährlich werden.
Inzwischen ist der Großvater nach Hause gekommen. Er wirft zornig den Schemel und den Teppich auf den Boden und hält Ali die leere Schale vors Gesicht. „Da! Nichts, nichts, und nur weil du nicht richtig aufgepasst hast.“ Ali laufen die Tränen über das braune Gesichtchen. „Großvater, ich habe es nicht mit Absicht getan, glaube mir. Sage mir, was ich tun soll, damit ich es wieder gut machen kann. „Wir brauchen wieder eine Schlange“, sagt der Großvater sehr ernst „sonst müssen wir verhungern.
„ Aber wir haben doch kein Geld um uns eine bei dem Schlangenhändler zu kaufen“, sagt Ali ganz zerknirscht.
„Deshalb musst du noch heute aufbrechen und eine neue Schlange für uns fangen“. „Aber wie soll ich das denn machen?“ fragt Ali.
„Pass auf, mein Junge. Du gehst hinaus in die Wüste, bis du zu dem großen roten Sandberg kommst. Am Fuße des roten Sandberges, dort wo die Sonne am Morgen aufsteigt, ist der Schlangenwald. „Der Schlangenwald?“ Ali schaut den Großvater mit ängstlichen Augen an. „Ja, das ist ein Wald aus lauter dürren, stacheligen Sträuchern und aus Büschen mit dolchscharfen Dornen. Zwischen diesem Gesträuch wohnen die Schlangen. Aber du kannst sie nicht sehen, denn sie haben sich im Sand vergraben. Es ist sehr gefährlich, ich weiß, deshalb musst du dich ganz vorsichtig bewegen und mit einem Stock versuchen sie aufzustöbern. Sobald du eine siehst, stülpst du dir diesen Handschuh über“. Er zieht den ledernen Handschuh aus seinem Kaftan, den er auch sonst immer bei sich trägt und gibt ihn Ali. „Damit packst du die Schlange hinten am Kopf, das muss ganz schnell gehen, verstehst du“. Ali fühlt, wie es ihm heiß und kalt den Rücken herunter läuft, während der Großvater mit einer raschen Handbewegung vormacht, wie man die Schlange fangen soll. „Sobald du eine gefangen hast, steckst du sie in den Sack den ich dir mitgeben werde. Wenn du ganz geschickt bist, kannst du vielleicht zwei fangen, dann können wir eine davon für viel Geld verkaufen“.
Ali weiß, dass es jetzt auf ihn allein ankommt, die Familie vor dem Verhungern zu retten. Er nimmt einen Stock, den Sack und den ledernen Handschuh und macht sich auf den Weg. Die Mutter hat Tränen in den Augen, als sie ihrem Jungen noch eine Flasche mit Wasser auf den Rücken bindet und ihm ein Stück Brot in seinen Kaftanmantel steckt. So marschiert Ali durch das große Tor, das die Form eines riesigen Schlüssellochs hat, hinaus aus der Stadt. Der Weg ist steinig und staubig. Ali zieht sich die Kapuze des Kaftans über den Kopf, um sich vor der glühenden Sonne zu schützen. Die Wüste vor ihm flimmert im grellen Licht und es sieht aus als läge am Fuße des Berges ein riesiger See. Weit in der Ferne ragt der rote Sandberg auf und Ali fällt die Geschichte des Märchenerzählers ein. Stunde um Stunde wandert der Junge durch die staubige Ödnis, aber der rote Sandberg will und will nicht näher kommen. Zuweilen hat Ali den Eindruck als würde der Berg vor ihm davonlaufen. Die Hoffnung, den Berg noch bei Tag zu erreichen, hat Ali längst aufgegeben. Todmüde setzt er sich auf einen Stein und trinkt von dem mitgenommenen Wasser. Als er das Brot aus der Tasche zieht, denkt er an die Mutter und die kleinen Schwestern zu Hause. „Fatima, Aischa, Mama“, leise spricht er ihre Namen vor sich hin und die Tränen laufen ihm über das staubige Gesicht. Inzwischen ist die Glutsonne hinter dem Horizont verschwunden und die Nacht bricht schnell herein. Der rote Sandberg liegt jetzt wie ein graues Ungeheuer in der Ferne. Morgen, denkt Ali, morgen werde ich den roten Sandberg und den Schlangenwald erreichen. Er wickelt sich in seinen Kaftanmantel und legt sich auf die Erde zum Schlafen. Der dunkle Himmel über ihm sieht aus wie ein Teppich bestickt mit gelben Sternenblumen. Dann fallen ihm die Augen zu. Er wacht plötzlich auf, weil er auf seinen Lidern einen hellen Lichtschein spürt. Der Mond war aufgegangen und hat die Wüste ringsum mit seinem Silberglanz überzogen. Ali reibt sich die Augen. Der Sandberg, bevor er einschlief, war der doch endlos weit weg und jetzt liegt er plötzlich vor ihm. Aber was ist das? Unzählige gleißende Blitze, die aus der Erde schießen, glitzernde Pfeile, die ihr rotes und blaues, grünes und gelbes Licht durch die Nacht feuern bilden eine Lichtspur, die geradewegs auf den Berg zuführt. Ali ist wie verzaubert. Er steht auf und geht auf einen der funkelnden Punkte zu. Er fasst nach einem winzigen Steinchen und hält es wie gebannt in seiner Hand. Wie er es auch dreht und wendet, es glänzt und glitzert immer fort. Er hebt ein anderes auf und ein drittes. Es sind vom Himmel gefallene Sterne, denkt er und sammelt weiter. Nach immer größeren und greller funkelnden Steinchen hält er Ausschau, er steckt sie in die Taschen seines Kaftans und in den Sack, der für die gefangene Schlange bestimmt ist. So im auflesen und weitergehen ist er dem Sandberg immer näher gekommen und steht plötzlich vor einem prächtigen, mit Gold und Edelsteinen verzierten Portal. Das ist er, das muss der Eingang zum Palast des reichen Räubers sein, von dem der Märchenerzähler berichtet hatte, denkt Ali. Ob ich da wohl mal hineinschauen kann? Beherzt klopft er mit dem Torklopfer an das Portal. Als sich auch nach mehrmaligem Pochen im Innern nichts rührt dreht er vorsichtig den Schlüssel um, der unter dem verschnörkelten Türgriff steckt. Das Portal knirscht in den Angeln, als er es langsam aufschiebt. Vor ihm liegt ein tiefdunkler, schauriger Raum. Keine prachtvollen Teppiche, keine Vasen und Goldgefäße, keine Juwelen und Edelsteine sind zu sehen. Ali bleibt zuerst wie angewurzelt stehen, macht dann ein paar zaghafte Schritte und bohrt seinen Blick ganz fest in das undurchdringliche Dunkel. Vielleicht ist doch irgendetwas zu sehen, aber es bleibt schwarz und finster vor seinen Augen und zudem ist es totenstill. Plötzlich hört er, wie hinter seinem Rücken die Pforte knarrt, er dreht sich blitzschnell um und kann gerade noch rechtzeitig ins Freie flüchten, ehe das Portal mit lautem Krachen ins Schloss fällt. Er zittert vor Aufregung, hätte er nicht so schnell den unheimlichen Raum verlassen, wäre er jetzt im Dunkeln eingeschlossen und kein Mensch würde ihn je wieder finden. Jetzt fällt ihm auf, dass er den Sack mit den gesammelten Steinchen, den Stock und den ledernen Handschuh im Innern des gespenstischen Raumes hat liegen lassen. Während er noch überlegt was zu tun ist, sieht er, wie über die weite Steinlandschaft ein rosiger Lichtschein fällt. Hinter dem Sandberg, der auf einmal wieder endlos weit in die Ferne gerückt ist, geht die Sonne auf. Wie ist das möglich, der Berg lag doch gerade noch vor mir, sinniert Ali, und auf einmal ist er wieder so weit weg. Vielleicht war alles nur eine Sinnestäuschung, eine Fata Morgana, und ich muss noch einen langen heißen Tag marschieren um dorthin zu kommen. Nein, ich habe das alles nicht geträumt, ich war im Innern des Berges und dort habe ich auch meine Sachen zurück gelassen. Aber wie soll ich jetzt eine Schlange fangen, wo ich doch keinen Stock und keinen Handschuh mehr habe und der Sack... plötzlich fallen ihm die Glitzersteine ein, die er alle im Sack gesammelt hatte. Die Vorstellung, dass er ohne eine Schlange und ohne die wichtigen Utensilien nach Hause zurückkehren muss, macht ihn ganz traurig. Wenn ich wenigsten die Steine hätte, denkt er verzweifelt und greift wie zufällig in die Tasche seines Kaftans. Aber da sind ja noch welche, die hatte ich ganz vergessen. Er lässt die Steinchen durch seine Finger rieseln. Ja, die werde ich auf dem Markt verkaufen und von dem Geld können wir uns eine neue Schlange kaufen und alles wird wieder gut. Er wirft noch einen Blick zurück auf den in der Ferne liegenden Sandberg und macht sich mutig auf den Heimweg.
Spät am Abend nach einem mühseligen Marsch kommt er durstig und erschöpft bei seinen Lieben zu Hause an. Die Mutter und die kleinen Schwestern sind froh dass er wieder da ist und umarmen ihn herzlich. „Wo ist der Sack mit der Schlange?“ fragt ihn der Großvater streng. Da erzählt Ali von seiner langen beschwerlichen Wanderung und von dem wunderbaren Erlebnis in der vergangenen Nacht. „Nein“, sagt Ali, „die Schlange habe ich nicht, aber ich habe euch etwas anderes mitgebracht“ und nun greift er in die Taschen seines Kaftans und zeigt ihnen die Glitzersteine. Obwohl es inzwischen dunkel geworden ist, blitzen und funkeln die Steine als hätte er die Sterne vom Himmel gepflückt. „Welch ein Wunder“ sagt die Mutter und Ali bemerkt wie ihre Stimme vor Freude zittert. Die kleinen Schwestern getrauen sich gar nicht die Steine zu berühren aus Angst sie könnten sich die Finger verbrennen. Der Großvater ist auf die Knie gefallen und neigt den Kopf auf den Boden „Allah sei gepriesen“ sagt er immer wieder. „Du hast uns einen großen Schatz mitgebracht, mein Junge“. „Dann bist du also nicht böse, dass ich keine Schlange gefangen habe? Fragt Ali. Der Großvater gibt ihm einen Kuss auf die Stirne, das hat er lange nicht mehr getan. „Allah sei gepriesen, der dich diese Steine hat finden lassen. Es sind Diamanten, die kostbarsten Edelsteine. Wir werden sie verkaufen und unsere Not wird ein Ende haben.“
„Großvater, dort wo ich heute Nacht geschlafen habe, sind noch viele von diesen Steinen. Ich glaube ich würde die Stelle wieder finden. Wir könnten noch mehr sammeln und uns dann ein Schloss bauen. Wir würden in seidenen Betten schlafen und von goldenen Tellern essen und in einem noblen Automobil spazieren fahren. „Nein, mein Junge“, sagte der Großvater „wir wollen nicht unbescheiden sein. Das, was du gefunden hast reicht aus, um uns einen richtigen Stand auf dem Markt zu kaufen. Deine Mutter und deine Schwestern werden saubere Kleider tragen. Du darfst zur Schule gehen und ich brauche mit meiner Flöte nicht mehr die Schlange beschwören. Das ist Glück und Segen genug und dafür wollen wir Allah danken“.

 


Dieses Märchen wurde mir von Helga Sauermann zur Verfügung gestellt.