Das vergessene Dorf

Es war einmal in einem engen Tal ein Dorf. Die Sonne schaute Tag für Tag deshalb immer nur sehr flüchtig vorbei. Und vielleicht war auch das der Grund dafür, dass zu wenig Wärme in den Herzen entstehen konnte. Durch das Tal schlängelte sich ein Fluss, der diesem Dorf einst den Namen gegeben hatte. Gegründet wurde das Dorf von einigen glücklosen Goldsuchern. Müde von der Suche ließen sie schließlich vom Gold ab, fällten Bäume und wurden so die ersten Dorfbewohner. Als das Dorf schon groß war, begab sich eines Tages ein Steinmetz zu seiner Arbeit. Diese lag an einem großen Felsen im Wald. Dort nämlich, wo die Quelle des Flusses entsprang. . Als er in den Stein mit Kling und Klang den Meißel einschlug, fing der Fels zu stöhnen an:

Halt' ein, du Narr - es soll dein Schaden nicht sein.

Der Steinmetz war im Wald immer allein und wunderte sich deshalb, warum er plötzlich eine Stimme hörte. Doch beruhigt stellte er fest, dass nur der Stein gesprochen hatte. So war er froh, einen sprechenden Stein gefunden zu haben. Wer weiß? - vielleicht konnte er dem Stein alle seine Lieder beibringen.

Willst Du mein Gesangspartner sein, so sollst du mir willkommen sein,

antwortete er unbekümmert dem Felsgestein und machte gleich seine Vesperpause. Er hub zu singen an. Und siehe da, der Fels sang im Kanon mit, so dass noch die weit weg arbeitenden Holzfäller verwundert ihre Äxte aus der Hand legten und zuhörten wie der Steinschläger mit einem Echo um die Wette sang.

Das Dorfvolk lebte nicht im Überfluss. Bestenfalls Ziegen fanden einige Kräuter an den Hängen in diesem kargen Tal. Es herrschte in Kriegszeiten besonders bittere Not. Einige schreckten nicht zurück und fraßen dann sogar Hunde. Oft reichte die Milch und die Butter der Bergziege nur aus, damit der Ernährer einer Familie nicht am nächsten Tag bei der Arbeit vor Schwäche umkippte. Zuerst bekam also der Vater zu essen. Der Rest war für die Frau und Kinder. So hart und streng war das Leben. Die Kinder hatten selten Schuhe und nur wenn der erste Schnee kam, bekamen sie welche. Dafür mussten sie sehr früh das Vieh im Stall versorgen, erst dann durften sie in die Schule gehen. Trotzdem feierte das Dorfvolk ausgiebig ihre fröhlichen Feste. Im Winter hatten sie auch sehr viel Zeit dazu. Wie das so ist, einige Bewohner waren gottesfürchtig und andere nicht. Die Kirche stand durchaus nicht mitten im Dorf sondern weit unten im Tal. Dafür war im oberen Teil auf dem Dach eines Hauses schon einmal eine Glocke angebracht, damit keiner die Mahnung zur Frömmigkeit überhörte. Aber auch böse Menschen kannte das Tal, die keine Lieder sangen und keine Gebete kannten. Es waren diese bösen Menschen, die einen fremden Götzen huldigten und allen sagten, wer diesen anbetet, nur dem würde es eines Tages besser gehen. Und sie beobachteten genau, welche ihm nun huldigten. Sie führten Listen, um diejenigen heimlich aufzuschreiben, die den Götzen verachteten. Eines Tages kamen tatsächlich baumlange schwarze Krieger des fernen Götzenfürsten ins Dorf und die Bösen zeigten mit Fingern auf die Aufgeschriebenen und damit auch auf den Sänger. So wurde der Sänger mit den anderen ins Gefängnis gesperrt. Viele beeilten sich, dem Götzen wenigstens jetzt zu huldigen und keiner half dem Sänger, denn jeder war mit sich selbst beschäftigt. Des Sängers Familie beschlich indessen große Not. Seine Frau mit Kindern verdingten sich als Wirtshaushilfe. Die Gäste trieben allerlei Schabernack mit den Kindern. Den Nacken schaben stand buchstäblich für diese Untaten, denn man hing eines der Kinder zum Spaß am Jackenkragen an einen der Garderobenhaken in der Schankstube auf. Das hundefressende Wirtshausvolk grölte dabei, kippte literweise Bier in sich hinein und übte das Hängen, denn die Zeiten wurden rauher mit dem neuen Götzen.

Doch der singende Felsen an der Quelle des Flusses befreite den Sänger. Die Steine der Gefängnismauer, die aus seinem Tal stammten, brachen an ihrer dicksten Stelle auf und der Steinsänger entkam. Noch in der Nacht flüchtete der Mann mit seiner Familie aus dem Dorf. Es gab eine versteckt liegende Steintreppe mit 365 Stufen hinter dem Hause, die aus dem Tal über den Berg führte. Kinderfüße laufen im Schnee langsamer als barfuss auf den bunten Sommerwiesen. Sie kamen nur mühsam voran. Aber der Herr des Quellenfelsens half ihnen auch bei der Flucht. Schnell verdeckte frischer Schnee ihre Spuren.

Doch der Felsengeist bestrafte die lockeren Dorfbewohner und ließ ihren Flussdamm zerbersten. Das Wasser mit den losgerissenen Baumstämmen zerstörte viele Häuser und diese wiederum begruben viele schuldige und unschuldige Bewohner unter den Trümmern. Doch nicht genug, angelockt von dem vielen Treibgut brach eine durchziehende gierige Kriegshorde in das Dorf ein. Es war schließlich die Zeit des hundertjährigen Hasses aufeinander. Wollte einer der Vertriebenen noch eilig mit festem Schuhwerk fliehen, musste er diese wieder ausziehen. Alle mussten froh sein, dass sie ihr Leben mitnehmen durften, denn sonst durften sie nichts aus dem Dorf forttragen. Sie wurden alle aus dem Dorf gejagt. Warum hatten sie nicht rechtzeitig auf den Sänger gehört gehabt. Die Spur im Schnee war jetzt sehr breit von den vielen Füßen. So mussten sie alle dem Pfad des Sängers folgen. Die Häuser des Tales zogen ihre Dächer tiefer ins Gesicht und schauten erschrocken den Leuten nach. Die Glocke auf dem Dachstuhl dachte, sie müsste - wie bei einem Begräbnis- jetzt läuten, dabei fiel sie herunter und zerbarst mit einem schrillen letzten Klang. Doch ohne Glocke ist ein Dorf kein Dorf mehr und wird deshalb schnell vergessen. Auch hatte das Dorf zu wenig Sonne abbekommen, sagte man später.


Dieses Märchen wurde mir von Dieter [ chax@wtal.de ] zur Verfügung gestellt.