Sylphidia und der Meergott

Es gab eine Zeit da glaubten die Menschen die Erde sei eine runde Scheibe, unter der die Sonne an einem Ende abends verschwindet und des Morgens am gegenüberliegenden Ende wieder auftaucht. Vom Meer dachten die Menschen es sei unendlich groß und weit und es dehne sich aus bis an die Ränder der Erdenscheibe, da wo die Sonne auf und untergeht. Über diese Ränder tropften die Wasser des riesigen Meeres in den unendlichen Himmelsraum. Auch von Inseln hatten manche Menschen eine eigenartige Vorstellung. So glaubten viele Inseln seien schwimmende Wälder, Berge oder Sandbänke, die, riesigen Schiffen gleich auf dem Wasser dahin treiben. Dass Inseln in Wirklichkeit Unterwasserberge sind, die sich aus dem Meeresgrund erheben und von denen nur die Spitze aus dem Wasser ragt, das wussten damals nur die Menschen, die auf einer Inseln lebten. Und von einer solchen Insel in grauer Vorzeit (von grau spricht man immer, wenn man nichts genaues weiß und es hat vielleicht auch ein wenig mit Grauen zu tun), erzählt unsere Geschichte.

Es war eine wunderschöne Insel mit einem hohen Berg in der Mitte. An seinen Südhängen waren riesige Weinberge und Obstplantagen angelegt. Im Norden dehnte sich ein lichter Kiefernwald bis hinunter zur Küste. Diese Küste war an manchen Stellen schroff und felsig, anderswo wiederum reichten blühende Wiesen oder flache Buchten mit goldgelbem Sand bis ans Meer. Am Fuß des hohen Berges, dort, wo am Morgen die ersten Sonnenstrahlen auftrafen, lag die Hauptstadt der Insel mit ihrer prächtigen Kirche. Die Kirche war weiß und ihre hohen vom Boden bis zur Decke reichenden Bogenfenster bestanden aus bunten Glasbildern. Wenn die Sonne auf die Kirchenfenster fiel, entstand auf dem hellen Marmorpflaster um die Kirche ein schillerndes Farbenspiel. Vor dem Kirchenportal standen zwei große Bäume mit glatten grauen Stämmen. Mit ihren weit ausladenden immergrünen Baumkronen beschatteten sie den Platz vor der Glut der Mittagssonne. Steinbänke waren ringsum aufgestellt; dort saßen die alten Männer der Stadt und plauderten miteinander. Dazwischen spielten die Kinder mit Steinen und Baumzapfen und ihr Lachen und Geschrei drang durch die engen Gassen. Die Häuser, die den Kirchplatz umstanden hatten blaue oder grüne Fensterläden und auf den zierlichen Balkonen standen in den Abendstunden die schönen dunkelhaarigen Frauen und schauten dem munteren Treiben zu. Wenn man vom Kirchplatz weiter abwärts schritt kam man zum Markt auf dem die Fischer und Gemüsehändler, die Handwerker und Gewürzhändler ihre Waren feilboten. Und noch weiter unten am Meer lag der Hafen, wo die Schiffe, auch solche die von weit her kamen anlegten und Waren und Güter ein- und ausluden.

Am Rande der Stadt, hinter den Weinbergen und Obstplantagen, lag der Palast des Fürsten. Es war ein prunkvolles Gebäude mit vielen Fenstern, die alle nach Süden zum Meer hin ausgerichtet waren. Eine breite Treppe führte vom Palast aus in einen wahren Zaubergarten. Links und rechts der weißen Wege blühten Rosen in allen Farben, Springbrunnen plätscherten dazwischen und hinter dichten Hecken, in lauschigen Nischen standen Bänke zum ausruhen. In den hohen Palmen, die majestätisch in den Himmel ragten, rauschte der Wind. Am Ende des Gartens, wo die Küste steil zum Meer hin abfiel, führte ein schmaler Treppenpfad hinunter zu einer kleinen Sandbucht. In diesem Paradies lebte Hero der Fürst der Insel mit Agaeta seiner schönen jungen Frau. Hero und Agaeta liebten sich zärtlich, aber es lag ein Schatten auf dieser Liebe, denn ihr sehnlichster Wunsch blieb unerfüllt. Kein Kindergeplauder war in den Räumen des Plastes zu hören und kein Kinderlachen drang durch den Zaubergarten. Die Fürstin war über ihre Kinderlosigkeit sehr traurig. Oft ging sie hinunter zum Meer und klagte dem Wind und den Wellen ihren Kummer. So saß sie auch an jenem lauen Sommerabend weinend am Strand, als etwas Seltsames geschah. Die Wellen hörten plötzlich auf in gleichtönendem Geräusch gegen das Ufer zu rollen und es wurde ganz still, so still, als hielte das Meer den Atem an. Die Fürstin sah, wie unter dem großen überhängenden Felsen neben der Bucht die Wasser zurückwichen und ein gewaltiger schwarzer Abgrund sich auftat. Dort in der Tiefe waren riesige Felsenhallen zu sehen, die von einem geisterhaften Licht erhellt wurden. Die Fürstin wagte kaum zu atmen und blickte wie gebannt auf die unterirdische Öffnung. Merkwürdige Geräusche waren von unten zu hören und plötzlich sprudelte aus dem abgrundtiefen Loch ein hoher weißschäumender Gischtberg empor. Agaeta erschrak und wollte fliehen, aber sie konnte ihre Beine nicht bewegen. Es war wie in einem schlimmen Traum. Aber was war das? Aus dem hochaufspritzenden Schaum tauchte die Gestalt eines gigantischen Jünglings auf. In seinen blauschwarzen Haaren hatten sich Muscheln und Seesterne verfangen und dazwischen zappelten bunte, leuchtende Fische. Sein Körper und seine Glieder waren grün und glänzten wie die bemoosten Steine am Ufer. Statt Händen und Füßen hatte er Schwimmflossen mit langen gebogenen Krallen. Mit verschleierten Fischaugen starrte er die Fürstin an, die vergeblich versuchte diesem unheimlichen Blick auszuweichen.

„Du musst keine Angst haben, Agaeta, ich bin Gomeron, der Fürst der Tiefe“ begann der Meermann jetzt zu sprechen. Er lächelte dabei und in seinem fischmaulähnlichen Mund zeigten sich schimmernde Perlenzähne. „Ich beobachte dich schon lange und weiß von deinem Kummer. Schau hier“ und dabei zeigte er ihr eine schimmernde Muschel „habe ich all deine Tränen gesammelt.“ „Was? Du hast – du hast meine Tränen gesammelt?“ „Ja, und aus jeder Träne soll eine Perle werden und die Kette aus diesen Perlen werde ich deiner Tochter an ihrem 18. Geburtstag um den zarten Mädchenhals legen und sie zur Herrin der Insel machen“.

„Meine Tochter? Aber ich habe keine Tochter“ rief die Fürstin und erschrak über ihre eigene Stimme.
„Sei unbesorgt, noch ehe das Jahr um ist, wirst du einer Tochter das Leben schenken. Du sollst ihr den Namen Sylphidia geben und damit du weißt, dass ich wahr gesprochen habe, gib Acht: Über der rechten Schläfe wird sich eine grünsilberne Strähne durch das Blondhaar deiner Tochter ziehen“.

Ehe Agaeta antworten konnte, schoss aus dem Mund des Meergottes eine silbrige Wasserfontäne und ergoss sich über die Fürstin. Sie erschauerte, denn ihr Haar, ihr Gesicht, ihr Kleid und ihre nackten Armen waren benetzt mit unzähligen winzigen Wassertropfen, die in der Sonne glitzerten wie Diamanten. Als sie aufschaute war der grüne Meermann verschwunden. Die Öffnung unter dem vorspringenden Felsen hatte sich geschlossen und die Wellen platschten und prallten wie eh und je an das Ufer. Agaeta stieg langsam und nachdenklich die Stufen zum Palast hinauf. Sie beschloss mit keinem Menschen, auch nicht mit ihrem Mann dem Fürsten, über das soeben Erlebte zu sprechen, warten wollte sie, ob sich die Prophezeiung des Wassergottes tatsächlich erfüllen würde.

Und siehe da, sie erfüllte sich, denn noch ehe ein Jahr vergangen war schenkte die Fürstin einer Tochter das Leben. Ein Freudenfest wurde anberaumt, denn alle Inselbewohner sollten sich mit dem Fürstenpaar über die Geburt des kleinen Mädchens freuen. Nachdem ihr sehnlichster Wunsch in Erfüllung gegangen war, erinnerte sich die Fürstin an das Gebot des Meergottes und so erhielt die Fürstentochter den Namen Sylphidia. Schon sehr früh zeigte sich, dass die Kleine besondere Gaben besaß. Mit zwei Jahren konnte sie bereits schwimmen und noch ehe sie zur Schule ging kannte sie die Namen vieler Fische, wusste wie sich Muscheln und Quallen unter Wasser fortbewegen und oft erzählte sie von unglaublichen Vorkommnissen in den Tiefen des Ozeans. Bei diesen Schilderungen wurde Agaeta immer ganz bang ums Herz, denn all das erinnerte sie an die Stunde unten am Strand, wo ihr der Meergott Gomeron begegnet war. Ist die grüne Strähne im Haar ihrer Tochter nicht ein Beweis seiner Prophezeiung? Was würde noch alles eintreten, was ihr Gomeron damals vorausgesagt hatte? Sylphidia war jetzt acht Jahre alt, was wird in zehn Jahren, an ihrem 18. Geburtstag geschehen? Sollte das bedeuten, dass ihr geliebter Mann, der Fürst dann nicht mehr am Leben ist und dass dann die Tochter die Herrin der Insel sein würde, wie es Gomeron angekündigt hatte? Alle diese Fragen gingen der Fürstin wieder und wieder durch den Kopf und ließen ihr keine Ruhe, aber sie schwieg, trug alles allein mit sich und verbarg es in ihrem Herzen.

So vergingen einige Jahre. Eines Tages, ohne dass der Fürst und die Fürstin noch daran dachten, wurde die Fürstin wieder schwanger und auf dem Schloss erblickte ein gesunder Knabe das Licht der Welt. Fortunas, Glücksbringer, nannten die Eltern den Sohn, denn er schien die Vollendung ihres Glückes zu sein. Mit der Geburt dieses Kindes verschwanden auch die düsteren Gedanken der Fürstin, denn nun konnte die Prophezeiung des Wassergottes nicht mehr eintreten. Fortunas wird, wie es Brauch und Sitte ist, eines Tages der künftige Fürst und Herr der Insel werden. Am meisten freute sich Sylphidia über den kleinen Bruder, den sie vom ersten Tag an in ihr Herz schloss. Das Glück der Fürstenfamilie schien ungetrübt, bis sich wieder etwas Ungewöhnliches ereignete.

Sylphidia und ihr kleiner Bruder weilten an einem schönen Sommertag zusammen mit der Kinderfrau unten am Strand. Die beiden Kinder spielten voller Freude im goldgelben Sand, als sich plötzlich eine riesige Welle ans Ufer wälzte, den kleinen Fortunas erfasste und ihn hinaus aufs Meer trug. Schreiend rannte die Kinderfrau mit Kleid und Schuhen ins Wasser und sah zu ihrem Entsetzen wie das weiß gischtende Gewoge den Kleinen verschlang. Und Sylphidia? Die verstörte Kinderfrau war kreidebleich. Sylphidia stand am Ufer und rief den Wellen in einer fremden Sprache etwas zu. Dabei machte sie merkwürdige beschwörende Bewegungen mit den Armen. Plötzlich erhob sich aus den Wellen der glänzende Fischleib eines Delphins. Auf seinem Rücken saß der kleine Fortunas und hielt sich wie ein Reitersmann an der Rückenflosse des Delphins fest. Die Kinderfrau traute ihren Augen nicht. Der Delphin schwamm ganz nahe an das Ufer heran, ließ mit einem sanften Schubs den Knaben von seinem glitschigen Rücken in den Sand gleiten und verschwand wieder in den Fluten des Ozeans. Glücklich schloss Sylphidia den kleinen Bruder in die Arme und die Geschwister spielten weiter im Sand als wäre nichts geschehen.

Am Abend erzählte die Kinderfrau das merkwürdige Erlebnis der Fürstin. Für Agaeta wurde durch diesen Vorfall wieder alles lebendig, was sie verdrängt hatte und vergessen wollte.
„Josita, du sagst, Sylphidia hätte den Wellen etwas zugerufen?“
„Ja, gnädige Frau und dabei hat sie so seltsame Bewegungen gemacht und dann ist plötzlich der Delphin aufgetaucht. Bitte, gnädige Frau, verlangen sie nie mehr von mir, dass ich mit den Kindern hinunter zum Strand gehen soll“, flehte die Kinderfrau unter Tränen. „Ich habe solche Angst, nach allem was geschehen ist“.
„Sei unbesorgt, Josita, ich werde in Zukunft selbst mit Fortunas ans Meer hinunter gehen“.
Als die Dienerin gegangen war überlegte die Fürstin, ob sie nicht mit Sylphidia über diesen Vorfall sprechen sollte. Aber dann müsste sie der Tochter auch das Geheimnis ihrer Geburt verraten und ihr von den Prophezeiungen des Meergottes berichten. Agaeta schüttelte den Kopf. Nein, das war unmöglich, sie musste weiterhin schweigen, wenn sie ihre Familie nicht beunruhigen wollte.

Die seltsame Begebenheit, von der die Kinderfrau ihr erzählt hatte, ging Agaeta nicht aus dem Sinn. So oft sie jetzt mit ihrem Söhnchen unten am Strand weilte war sie unruhig und besorgt. Sie ließ den Kleinen keine Sekunde aus den Augen und immer, wenn er übermütig ins Wasser stapfen wollte, holte sie ihn zurück. Ständig beobachtete sie das Meer und wenn sich weit draußen der weiße Gischtkamm einer großen Welle zeigte, schloss sie Fortunas ängstlich in die Arme.

Wäre es möglich, dass der grüne Wassermann ihrem Sohn nach dem Leben trachtete? Hatte Gomeron nicht prophezeit, dass Sylphidia die Herrin der Insel werden sollte. Aber warum hat der Delphin dann Fortunas gerettet?
Je länger die Fürstin über all das nachgrübelte, desto mehr reifte in ihr der Entschluss, den Wassergott auf die Probe zu stellen. Sollte er ihr dabei den Sohn entreißen, so würde sie sich in der selben Sekunde hinterher stürzen, um mit dem geliebten Kind in den Fluten zu versinken. Von da an ließ sie also den Buben ungestört am Ufer spielen und plantschen und sie freute sich, wenn er sich übermütig im Sand wälzte, um sich anschließend im seichten Wasser wieder abzuspülen. So ging der Sommer hin und nichts Ungewöhnliches geschah.

Aber eines abends, die Sonne war bereits unter gegangen und über dem stillen Meer lag ein rosiger Schein. Agaeta saß am Ufer. Sie hielt den Knaben im Arm, denn er war müde vom Spielen - und da hörte sie es wieder, dieses Schlürfen und Gurgeln unter dem Felsvorsprung. Und wieder war es, als würde ein mächtiger unterirdischer Strudel alles Wasser in die Tiefe saugen. Agaeta umklammerte das Kind noch fester und wartete voll Bangen. Sie war sicher, dass Gomeron auftauchen würde und dann wollte sie ihn zur Rede stellen. Mit Zischen und Brausen schoss plötzlich eine gigantische Fontaine aus der Tiefe empor, riss den Knaben aus den Armen der Mutter und spülte ihn auf blaugrünen Schaumwogen hinaus ins Meer. Agaeta wurde ans Land geschleudert und sah noch, wie ihr Kind im Taumel der Wellen versank. Sie sprang auf und rannte wie eine Wahnsinnige auf die tobenden Wasser zu. Völlig verzweifelt schrie sie immer wieder den Namen ihres Sohnes. Aber was war das? Fortunas - weit draußen sah sie plötzlich den Knaben. Es sah aus, als würde er auf den weißen Schaumkronen der Wellen reiten. Jetzt kam er näher und Agaeta erkannte, dass ein riesiger Fisch auf seinem Rücken ihren Sohn durch die Wellen trug. Der Delphin, ja, das war der Delphin! Staunend beobachte Agaeta wie der Fisch zum Land schwamm und dann mit einem kräftigen Schlag seiner Schwanzflosse den Kleinen wieder ans trockene Ufer schubste. Überglücklich schloss die Fürstin ihr Kind in die Arme, drückte und herzte es immer wieder, stammelte Worte der Dankbarkeit und weinte vor Glück. „Warum weinst du?“ hörte sie eine Stimme hinter sich. Sie drehte sich um und erschrak. „Sylphidia, du?“ „Es ist doch alles gut“, sagte das Mädchen und streichelte liebevoll den kleinen Bruder. Agaeta starrte die Tochter an. War dieses rätselhafte Geschöpf, das nach Tang und Algen roch und an dessen rechter Schläfe eine grüne Haarsträhne schimmerte, war das wirklich ihre Tochter? War das überhaupt ein Wesen aus Fleisch und Blut?

An diesem Abend brach die Fürstin ihr Schweigen. Sie saß mit ihrem Mann an einem der großen Fenster. Tief unten lag das stille Meer im weichen Licht des Mondes. Agaeta erzählte dem Fürsten von ihrer unheimlichen Begegnung mit dem Wassergott und von seiner Prophezeiung, dass Sylphidia an ihrem 18. Geburtstag, die Herrin der Insel werden sollte.
„Warum hast du mir nie etwas davon erzählt“, sagte der Fürst „diese Prophezeiung könnte sich doch auch so erfüllen, indem ich selbst Sylphidia an ihrem 18. Geburtstag zur Herrin der Insel mache. Ist dir das nie in den Sinn gekommen?“
Die Fürstin schüttelte den Kopf.
„Warum hast du dich all die Jahre so gequält?“ sagte der Fürst und nahm seine Frau in die Arme.
Erst als Fortunas geboren wurde sei sie nicht mehr beunruhigt gewesen, erzählte die Fürstin. Von da an hätte sie gewusst, dass der Sohn der zukünftige Herrscher der Insel sein werde und dass das Orakel sich nicht erfüllen werde. Und dann schilderte sie ihr Erlebnis unten am Strand, wie ihr die Wellen das Kind aus den Armen gerissen hätten und wie der Delphin auf seinem Rücken den Kleinen zurück ans Ufer brachte. Auch von Sylphidia erzählte sie, Sylphidia die plötzlich hinter ihr gestanden wäre, wie ein Geschöpf aus einer anderen Welt.
„Alles ist so rätselhaft und ich habe Angst“, sagte sie und ihre Stimme zitterte. Der Fürst stand auf und ging ans Fenster. Nachdenklich schaute er aufs Meer hinaus. „Nach allem was du mir berichtet hast, bin ich sicher, dass das Geheimnis um die Geburt unserer Tochter mit einem Ereignis zu tun hat, das sich vor langer Zeit hier zugetragen haben muss Er setzte sich wieder neben die Fürstin und begann:

Vor vielen hundert Jahren war unserer Insel ein unbewohntes Eiland mitten im weiten Ozean. Eines Tages strandete nach einem schweren Sturm ein Schiff an der Küste der Insel. An Bord des Schiffes befand sich auch ein vornehmer Königssohn mit seinem Gefolge. Wie froh waren die erschöpften Reisenden und die Mannschaft des Schiffes hier auf der Insel endlich frisches Wasser zu finden. Zudem gab es herrliche Früchte und Nüsse und am Strand fanden sie reichlich Muscheln und Krebse. Alles war da, und man bereitete ein köstliches Mahl. Während die Gestrandeten sich stärkten und im Schatten der Palmen ausruhten, begab sich der junge Prinz auf einen Erkundungsgang entlang der Küste. Genau an jener Stelle unten am Strand, wo du heute das schreckliche Erlebnis hattest, setzte er sich hin und schaute aufs Meer hinaus, voll banger Sorge, ob er wohl je wieder zurück in seine Heimat kommen würde. Da sah er wie weit draußen auf dem Wasser sich eine riesige Welle auftürmte und in rasendem Tempo geradewegs auf ihn zueilte. Beim Näherkommen erblickte er einen blauen Delphin auf dessen Rücken eine zauberhafte Nymphe saß. Das blonde Haar, durchzogen von goldgrünen Strähnen, fiel ihr in Wellen auf die Schultern. Ihre Augen schimmerten grün wie das Meer und ihre Lippen waren zart wie die Blätter der Seerosen. Sanft ließ der Fisch die Meermaid neben dem überraschten Königssohn ans Ufer gleiten.

„Willkommen Fremdling auf unserer Insel Canarsis“, sagte die Nymphe „Ich bin die Tochter des Meergottes Gomeron, dessen Reich sich hier unter der Insel befindet. Mein Name ist Sylphidia“.
“Sylphidia? das ist der Name unserer Tochter“, rief die Fürstin.
„Ja, meine Liebe und du wirst gleich verstehen, warum mit diesem Namen auch das Schicksal unserer Insel verbunden ist. Der fremde Königssohn war von der holden Meermaid ganz bezaubert und kehrte erst als es dunkel war wieder zurück zu den Anderen. Dort eröffnete er ihnen, dass er auf der Insel bleiben wolle. Wie erstaunt war er, als er auch von den anderen Schiffbrüchigen hörte, dass sie seinem Beispiel folgen wollten. So begannen sie also die Insel zu besiedeln. Sie bauten Hütten und Häuser, legten Wege, Gärten und Felder an und pflanzten Wein an den sonnigen Hängen. Der junge Königssohn hatte sich inzwischen mit der Tochter des Meergottes vermählt und ließ sich unten am Strand einen herrlichen Palast bauen. Als dem jungen Paar – unseren Urahnen, wie du weißt - dann noch ein Sohn geboren wurde, schien ihr Glück vollkommen. Aber der Schein war trügerisch, denn der Meergott Gomeron hatte die Heirat seiner Tochter mit einem Irdischen nie gebilligt und versuchte sich nun zu rächen. Immer wieder ließ er gewaltige Wellenberge auf den Palast des Fürstenpaares niederstürzen oder wälzte Salz und Sand vor die Fenster und Portale. In einer stürmischen Nacht tauchte er wütend aus der Tiefe auf und verfluchte seine Tochter. Nie mehr dürfe sie zurück kehren schwor er, um unsterblich mit den Ihren auf dem Grund des Meeres zu leben; sterben werde sie wie alle Menschen und die Insel, die werde er sich zurück holen, irgendwann. Dann versank er und riss in einem schäumenden Wasserstrudel einen Teil der Mauern des Palastes mit sich in die Tiefe. An jenem Tag beschloss mein Urahn sich oben am Berg ein Haus zu bauen, weit weg vom tobenden Meer, um sich und seine Familie zu schützen, genau da, wo wir uns jetzt befinden“, schloss der Fürst seine Geschichte.
Die Fürstin fröstelte. “Er kann also jederzeit wieder auftauchen und seine Drohung wahrmachen?“ fragte sie besorgt.
“Er hat in all den zurück liegenden Jahrhunderten der Insel nie mehr Schaden zugefügt, warum sollte er es jetzt tun? Vielleicht ist seine Bitte, unserer Tochter den Namen Sylphidia zu geben, auch ein Beweis, dass er sich mit uns versöhnen will?

Und könnte es nicht sein, dass der Wassergott mit Fortunas spielen wollte, als er den Kleinen auf dem Delphin hat reiten lassen? Du solltest dir nicht so viele Gedanken machen.“
Trotz der Zuversicht des Fürsten, blieben in Agaetas Herzen Zweifel und Sorgen zurück.
Nachdem sich aber in den folgenden Jahren nichts mehr ereignete, was die Fürstin hätte ängstigen können, wurde sie allmählich wieder ruhiger und ihre heitere Wesensart, die alle so an ihr liebten, kam wieder zum Vorschein. Sie sah ihre Kinder heranwachsen und freute sich über die Liebe und das innige Verständnis der Geschwister zu einander. So gingen die Jahre ins Land und der 18. Geburtstag der Fürstentochter stand unmittelbar bevor. Ein wunderschönes Fest sollte es werden zu dem Sylphidia alle ihre Freunde einladen wollte. Mit Musik und Tanz, mit lustigen Spielen, Essen und Trinken und zum Abschluss mit einem großen Feuerwerk wollte der Fürst das Geburtstagsfest seiner Tochter feiern. So wurde also schon Wochen vorher mit den Vorbereitungen begonnen. Aber je näher das Fest rückte, desto unruhiger wurde die Fürstin. In einer Mischung aus Mitfreude und Angst beobachtete sie das eifrige Tun um sich herum. Während die Tochter, schlank von Gestalt, mit rosigen Wangen und dem Goldhaar mit der grünen Strähne von Tag zu Tag mehr erblühte, wurde Agaeta immer bleicher und stiller. Viele Stunden verbrachte sie allein in ihren Gemächern und wenn der Fürst sie dort aufsuchte war sie oft bedrückt und schwermütig. “Was ist mit Dir? Warum bist du so betrübt? Hast du nicht eine wunderschöne Tochter und einen prächtigen Sohn? Du solltest dich mit uns freuen.“
„Ja, das werde ich tun“, sagte die Fürstin, „wenn das Fest vorbei ist.“

So kam also der große Tag. Schon am Morgen hallten Böllerschüsse über die Insel, um allen Bewohnern das Freudenfest anzukündigen. Auf dem Dach des Palastes wehte die Fahne in den Farben der Insel, blau und grün. Die Fenster und Portale waren mit Rosengirlanden geschmückt, in den Bäumen und Hecken baumelten Luftballons und bunte Schleifen zierten das Geländer der großen Freitreppe, die in den Garten führte. Sobald die Sonne aufgegangen war, fand sich auf der Terrasse eine Musikkapelle ein, um das Geburtstagskind mit einem Ständchen zu begrüßen. Sylphidia trat auf dem Balkon und lauschte den Musikanten. Wie wunderschön sie war in ihrem Kleid aus schimmernder meergrüner Seide und der Seerose im blonden Haar. Sylphidia bedankte sich bei den Musikanten, denn jetzt hielt eine prunkvolle Kutsche vor der Freitreppe, um die Fürstenfamilie zur Kirche zu bringen. Bei der Fahrt durch die Stadt winkten und jubelten die Menschen von Fenstern und Balkonen herab und streuten Rosen und Levkojen auf die vorbeifahrende Kutsche. Entlang der Straße winkten die Kinder mit blaugrünen Fähnchen, die Männer schwenkten ihre Hüte und eine Schar Jugendlicher rannte mit Hurra-Geschrei hinter der Kutsche her. Nachdem die Familie aus der Kirche zurück gekehrt war, fand auf der Terrasse der große Empfang für die Geburtstagsgäste statt. Alle Freundinnen und Freunde, Verwandte und Bekannte und die Bediensteten des Schlosses hatten sich eingefunden. Eine Gruppe kleiner Mädchen in duftigen weißen Kleidern führte einen Tanz auf und ein zehnjähriger Junge trug ein Gedicht vor. Nachdem Sylphidia von ihren Gästen mit Glückwünschen und Geschenken reich bedacht worden war, präsentierten als Letzte der Fürst und die Fürstin ihr Geschenk. Fürst Hero führte seine Tochter an die Brüstung und zeigte hinunter zum Meer. In der Bucht lag, von leichten Wellen hin und her geschaukelt, ein kleines Segelboot vor Anker. Sylphidia stieß einen Freudenschrei aus und fiel ihrem Vater um den Hals, ihr sehnlichster Wunsch war in Erfüllung gegangen. Sogleich eilte sie mit ihren Freunden hinunter zum Strand, um das herrliche Geschenk näher zu betrachten. Mit Sorge beobachtete Agaeta die überschäumende Freude der Tochter. Musste sich durch das Boot die geheimnisvolle Beziehung, die Sylphidia mit dem Meer verband, nicht noch mehr vertiefen?
Zum Mittagessen fand sich die illustre Gesellschaft unter den großen schattigen Bäumen ein, wo eine reich gedeckte Tafel aufgebaut war. Unter fröhlichem Geplauder ließen sich die Gäste köstliches Wildbret, zartes Geflügel, und die leckersten Salate schmecken. Nur Fisch suchte man vergeblich unter den Schlemmereien, denn Fisch durfte, auf Sylphidias Wunsch hin, nicht gereicht werden. Immer wieder hoben die gutgelaunten Gäste ihre Gläser, um das Geburtstagskind mit einem Trinkspruch zu ehren. Nach dem üppigen Mahl zerstreuten sich die Besucher im Park um zu flanieren. Andere ließen sich auf einer hinter Buchshecken versteckten Bank nieder, um ein wenig auszuruhen. Sylphidia und ihre jungen Gäste begaben sich auf die Terrasse, wo jetzt eine Kapelle heitere Melodien spielte und schon bald waren von weitem die fliegenden Röcke der tanzenden Mädchen zu sehen. So gingen die Stunden hin wie im Fluge und der Abend nahte. Nachdem die Sonne untergegangen war, warteten alle gespannt auf das große Feuerwerk, das erst, wenn es ganz dunkel war stattfinden sollte. Sylphidia saß fröhlich plaudernd im Kreise ihrer Freunde und das Kichern, Scherzen und Lachen der jungen Leute drang bis in den Pavillon am Rande des Gartens, in das sich das Fürstenpaar zusammen mit dem kleinen Fortunas zurückgezogen hatte. Noch drei Stunden bis Mitternacht ging es der Fürstin durch den Kopf, dann ist alles überstanden, dann kann ich aufatmen und mich auch von Herzen freuen.

„Was für ein herrliches Fest, schau nur, wie fröhlich unsere Gäste sind“, sagte der Fürst zu seiner Frau, „nur du bist so ernst, meine Liebe und das verstehe ich nicht. Hast du bemerkt wie umschwärmt unsere schöne Tochter ist, überall ist sie der Mittelpunkt. Ja, heute ist Sylphidias Ehrentag, heute ist sie wirklich die Herrin der Insel.“ Die Fürstin erbleichte. Kaum hatte der Fürst diese Worte ausgesprochen, war es Agaeta, als ginge ein Zittern durch die Insel, so fein und schwach wie ein fernes Donnerrollen. Die Fürstin griff nach der Hand ihres Mannes und hielt den Atem an. Jetzt - da war es wieder! Was war das? Bebte die Insel? Von den Gästen hatte es bisher niemand bemerkt. Aber plötzlich fuhr ein ungeheuer Ruck durch die Insel. Die Teller wackelten auf den Tischen und Gläser fielen klirrend zu Boden. Die Tanzenden hielten erschreckt inne, auch die Musik hatte aufgehört zu spielen. Vom Kirchturm klang ein langer dumpfer Glockenton herüber. Kein Lufthauch war zu spüren und dennoch war von ferne das gewaltige Rauschen eines herannahenden Sturmes zu hören. Das fröhliche Lachen der Geburtstagsgäste war verstummt und alle standen wie erstarrt und horchten gespannt auf die unheimlichen Geräusche. „Kommt, kommt alle mit, folgt mir nach...!“ Was für eine merkwürdige Stimme? Woher kamen diese gurgelnden, glucksende Laute? Von dort? Auf der obersten Treppenstufe, die zur Terrasse des Palastes führte stand Sylphidia. Aber war das die schöne Fürstentochter, die eben noch so fröhlich mit ihren Freunden gescherzt und gelacht hatte? Die schlanke Gestalt war in ein seltsam blaugrünes Licht getaucht und Wasser, ja Wasser tropfte aus den Falten ihres Kleides. Jetzt streckte sie beschwörend die Hände aus und da konnte man es sehen: Sie hatte Schwimmhäute zwischen den Fingern!
“Kommt, folgt mir, kommt alle mit“, wieder lockte diese eigenartig verzückte Stimme. „ Kommt mit! Wir feiern ein großartiges Wasserfest; wir tauchen, tauchen in die blaugrünen Gründe des Ozeans. Wir schwimmen, schwimmen durch Gärten mit Wasserrosen und durch einen Urwald von Tang. Wir schwimmen zwischen Fischen, die leuchten wie Edelsteine, wir schwimmen zwischen Quallen in zarten Schleierkleidern...wir schwimmen, schwimmen...“. Sie bewegte die Arme als würde sie schwimmen und wies dabei in die Richtung der Stadtmauer. Plötzlich ein gellender Schrei: „Die Stadt, die Stadt...Ein grauenvoller Anblick bot sich den entsetzten Geburtstagsgästen: Die Stadt war von der restlichen Insel abgebrochen und in den abgrundtiefen Spalt zwischen der Stadt und der Insel zwängte sich das Meer mit sturzflutartigen Wassermassen. Aus der Tiefe war die Stimme Gomerons zu hören:
“Ich will sie ganz, die stolze Stadt, kein Stein darf vom anderen fallen, kein Dach darf einstürzen, ich will sie ganz und unversehrt auf dem Grunde des Meeres haben.“

Entlang der Stadtummauerung waren jetzt riesige Flossenarme zu sehen, die sich festkrallten und zerrten und zogen. Ein Krake von unvorstellbarem Ausmaß hatte seine Fangarme um die Stadt geschlungen und versuchte sie in die Tiefe zu ziehen. An den Felsvorsprüngen hingen gigantische Meerschlangen, um mit ihrem Gewicht die Mauern nach unten zu zwingen. Monströse Wassermänner mit grünglänzenden Körpern zerrten und rissen mit ihren muskulösen Armen die Stadt immer weiter in die tosenden Wellenberge hinein. Die Stadt, die bereits zur Hälfte versunken war trieb wie ein Schiff in Seenot im aufgepeitschten Meer.
Das Fürstenpaar saß totenbleich, den kleinen Sohn zwischen sich und starrte wie gelähmt auf das ungeheuerliche Geschehen. Sie hatten längst keine Worte mehr, sie wussten, dass sie diesem Grauen nicht entrinnen konnten. Agaeta zuckte zusammen wie unter einem Peitschenschlag, denn wieder war Gomerons Stimme zu vernehmen: “Sylphidia komm, komm meine Geliebte, auf die ich so lange gewartet habe, heute noch werde ich dich zur Herrin der Insel machen.“
Dann ergoss sich ein gigantischer Wellenberg mit todbringender Wucht über die Insel und riss alles Leben in den tosenden Abgrund. Bevor Agaeta das Bewusstsein verlor, sah sie noch, wie inmitten des wütenden Gewoges der blausilberne Leib des Delphins auftauchte, blitzschnell Fortunas auf seinen Rücken hob und ihn durch die tobenden Wellenberge davon trug.
Eine Stunde vor Mitternacht war die Stadt so weit untergegangen, dass nur noch der Kirchturm mit den drei Glocken aus dem Wasser ragte. Das schauerliche Geläute der Glocken, die durch die Wucht der Wellen bewegt wurden, war das letzte was von der Insel Canarsis zu hören war. Zur Geisterstunde stieg ein bleicher Mond auf und beschien einen großen brodelnden Fleck auf der dunklen Wasserfläche. Canarsis, die herrliche Insel war auf den Grund des Meeres gesunken.

Tief unten in den blaugrünen Wassern blies Gomeron auf seinem Muschelhorn, um alle Wassergeister, alle Nymphen und Nixen, alle Fische, Quallen, Kraken, Seeschlangen, Muscheln, Schnecken und Seesterne zu seinem Hochzeitsfest einzuladen. Morgen sollte die Fürstentochter Sylphidia seine Königin werden. Eine Schar Meerjungfrauen in flutenden Tangkleidern hatte Sylphidia am Eingang der Unterwasserhöhle in Empfang genommen. Jetzt lösten sie ihr das Haar und salbten ihre Haut mit einer Paste aus Seetang und Schneckenschleim. Sylphidia fühlte sich plötzlich leicht und schwerelos, ihre Bewegungen wurden weich und fließend und zugleich ruhelos. Dann hüllten die Meerjungfrauen sie in ein Gewand aus grünsilbernem Gespinst und schmückten sie mit einem Kranz aus weißen Seerosen. „Nun bist du auch eine Wassergöttin“ sagte die Älteste der Meerfrauen „und jetzt komm, wir werden dich zu unserem Fürsten bringen.“
Gomeron, der Wasserfürst saß auf einem Thron, der aus einer riesigen goldglänzenden Muschel bestand. Der gleiche Thron stand auch für Sylphidia bereit. “Komm meine Schöne“, sagte Gomeron und nahm sie bei der Hand. “Weißt du, dass ich dich schon liebte, ehe du geboren warst? Nun sollst du für alle Zeiten meine Königin und die Herrin der Insel sein.“
Sylphidia konnte den Blick von dem seltsam schönen und doch unheimlichen Mann nicht wenden, dessen Stimme wie Meeresrauschen klang. Gomeron nahm jetzt aus einer kleinen Muschelschale eine Perlenkette und legte sie Sylphidia um den Hals. In dem Augenblick aber, als Sylphidia die Perlen auf ihrer Haut spürte, zuckte sie zusammen und schrie auf.

“Was ist das? Wo bin ich hier? Meine Eltern, mein kleiner Bruder Fortunas, wo sind sie? Wo ist die Insel auf der ich lebte? Wo sind die Stadt und der Palast meiner Eltern? Wo sind meine Freunde? Was habt ihr mit mir gemacht?“
“Habe ich dich nicht gewarnt, Gomeron, die Tränen ihrer Mutter zu sammeln. In diesen Tränen liegt die Wahrheit und nach dieser Wahrheit wird sie nun verlangen.“ Es war eine alte spinnwebhaarige Meerfrau, die das sagte.
“Dann nimm ihr die Kette ab“, befahl Gomeron der Alten.
Aber Sylphidia hielt die Kette an sich gepresst und nun war ihr, als wäre plötzlich die Schwebeleichtigkeit verschwunden und als hätte sie keinen Atem mehr.
“Ja, die Wahrheit“, keuchte sie, „ich will die Wahrheit wissen.“
Mit einer Stimme, die jetzt auf einmal so fein und zärtlich klang wie das Wellenspiel am Ufer sagte Gomeron: “Komm Sylphidia setz dich wieder neben mich. Weißt du, vor vielen Jahrhunderten hat mir ein Menschenmann mein Liebstes weggenommen, meine Tochter Sylphidia. Seitdem lebe ich einsam hier unten in der Tiefe. Ich sehnte mich immer nach Liebe, aber ich konnte sie nicht finden, nicht hier in meinem Reich und auch nicht oben auf der Erde, bis ich eines Tages von deinen Eltern hörte.“
“Von meinen Eltern?“ fragte Sylphidia erstaunt.
“Ja, denn sie liebten sich so innig, wie ich mir die Liebe immer gewünscht habe. Ich beneidete sie, aber eigentlich waren sie gar nicht zu beneiden, denn sie bekamen keine Kinder und das warf einen großen Schatten auf ihre Liebe. Wie oft habe ich deine Mutter unten am Meer sitzen sehen, weinend und unglücklich. In jener Zeit habe ich angefangen ihre Tränen zu sammeln und die alte Nymphia musste mir daraus Perlen machen, jene Perlen, die du jetzt um den Hals trägst. Nymphia war es auch, die mir jenen Zaubersud bereitet hat mit dem ich deine Mutter besprühte, damit sie endlich ein Kind bekommen konnte und dieses Kind bist du, Sylphidia. Ich liebte dich schon vor du geboren warst und später habe ich mich in deine Träume geschlichen, denn ich wollte dich vorbereiten auf die herrliche Unterwasserwelt, in die ich dich eines Tages führen wollte.“ “
“Aber warum hast du die Stadt mitgerissen in die Tiefe?“
“Weil du nichts vermissen sollst. Alles, was dir dort oben lieb und wichtig war, das wirst du auch hier unten besitzen. Du kannst weiter in deinem Palast wohnen und darfst dich auch hier an den schönen Gärten freuen. Sie sind hier unten zu wiegenden Tangwäldern geworden und die Blumen haben wir in traumbunte Fische verwandelt. Auch deine schönen Kleider sollst du weiterhin tragen, gewoben aus hauchfeinem Algengespinst und deinen Schmuck....
“... aus den Tränen meiner Mutter, die Ihr in Perlen verwandelt habt.“
Sylphidia wollte weinen, aber sie spürte, dass sie keine Tränen mehr hatte.
“Was ist mit meinen Eltern, mit meinem Bruder und mit all den lieben Freunden?“ fragte sie voller Traurigkeit.
“Du wirst sie vergessen.“
“Aber warum soll ich sie vergessen, sie, die ich doch so sehr liebe“.
“Du wirst sie vergessen, weil sie sterblich sind, du aber wirst mit mir sein ewig in den Tiefen des Meeres. Du wirst unsterblich sein. Sobald Du die Kette von Deinem Hals nimmst, wirst Du nichts mehr wissen, was vorher war. - Gib mir jetzt die Kette zurück“, sagte Gomeron eindringlich und mit einer zärtlichen Bewegung griff nach der Kette, aber Sylphidia hielt sie noch immer fest.
“Wenn Du mich so liebst, wie du sagst, dann gewähre mir eine Bitte. Einmal im Jahr, für einen Tag und für eine Nacht, da lass mich die Kette mit den Tränen meiner Mutter umlegen, damit ich mich erinnern kann an mein früheres Leben. Und dann soll auch die Stadt auftauchen und auf der Spiegelfläche des Meeres schwimmen im Licht der Sonne und im Schein der Sterne.“
Gomeron zögerte, doch dann sagte er: “Ich werde Dir Deinen Wunsch erfüllen, einmal in jedem Jahr an Deinem Geburtstag soll die Stadt auftauchen und Du sollst Dich an Dein früheres Leben erinnern.“
Behutsam nahm er Sylphidia die Kette vom Hals und legte sie zurück in die Muschelschale.

II. Teil
Es dämmerte, aber die Sonne war noch nicht aus dem Meer gestiegen. Fernando, der Fischer, ging an diesem Morgen wie immer aus seiner Hütte und schritt über die runden Steine hinunter zum Ufer. Er band seinen Kahn los und wollte gerade hinaus aufs Meer fahren, als er den Knaben erblickte. Traurig und frierend saß der Kleine auf einem Stein, ein Bild des Jammers. Der Junge mochte etwa 10 Jahre alt sein. Das dunkle Lockenhaar war nass, genau so nass wie seine Kleider und Schuhe.
“Wer bist du denn und wie kommst du hierher?“ fragte Fernando teilnehmend, bemerkte aber sogleich, dass der Junge ihn nicht verstand. „Papa, Mama“ sagte der Junge und dicke Tränen liefen ihm über das Gesicht. Fernando führte den Jungen zu seiner Hütte. Die Fischerfrau zog dem Findelkind trockene Kleider an und setzte ihn an den Tisch zu ihren eigenen drei Kindern. Neugierig beobachteten sich die Kinder und fanden bald einen Grund ihre anfängliche Schüchternheit zu überwinden. Es war der Hund der Fischerfamilie, der unentwegt in lustigen Sprüngen nach einer Fliege schnappte und sie nicht erwischte. Da lachten die Kinder miteinander und der Bann der Fremdheit war gebrochen.
“Ich bin Pedro“ sagte der Älteste „und das ist Giovanni, mein Bruder und Donata, meine kleine Schwester und wie heißt du?“
“Fortunas“, sagte der Junge.

Die Frau des Fischers hatte in der Zwischenzeit die Kleider des Knaben zum Trocknen aufgehängt. Alles war aus Samt und feinster Seide gefertigt und die Knöpfe an der kleinen Weste funkelten im Sonnenlicht. Beim genauen Hinsehen erkannte sie, dass es lauter Edelsteine waren. Wo mag er wohl hergekommen sein und welches schlimme Schicksal hat ihn in unsere Bucht gespült? fragte sie sich.
Es vergingen einige Monate und Fortunas lernte immer besser sich mit den Fischerkindern zu verständigen. Eines Tages begann er, etwas stockend zuerst, von seinem Erlebnis mit dem blauen Delphin zu erzählen. Die drei Kinder hörten ihm aufmerksam zu und berichteten dann ihren Eltern davon. Der Fischer und seine Frau, die schon lange über die unbekannte Herkunft des Findelkindes gegrübelt hatten, forderten nun den Kleinen auf, weiter von sich zu erzählen. Und so erfuhren sie von Fortunas Eltern, die ein reiches Fürstenpaar waren und von seiner schönen Schwester Sylphidia. Fortunas schilderte der Fischerfamilie in allen Farben seine Insel mit der herrlichen Stadt. Plötzlich brach er in Tränen aus und erzählte wie die Insel am Geburtstag seiner Schwester auseinander gebrochen ist und dann von gewaltigen Wassermassen in die Tiefe gerissen worden ist. Zuletzt schilderte er seine abenteuerliche Rettung durch den blauen Delphin, der ihn schließlich hierher an diese Küste gebracht hat. So wundersam war diese Geschichte, dass schon bald auch die Leute aus der Nachbarschaft in die Fischerhütte kamen, um sich das unglaubliche Erlebnis vom Untergang der schönen Insel Canarsis und von der Rettung des Knaben durch den blauen Delphin erzählen zu lassen.
Nach allem, was die Fischerleute nun über ihr Findelkind erfahren hatten und was ja durch die feinen Kleider des Jungen bestätigt wurde, fiel es ihnen schwer, ihn genau so zu behandeln wie die eigenen Kinder. Er war doch wirklich etwas Besseres. Sollte er nicht in der Stadt in eine Schule gehen und studieren. Aber Fortunas wollte, wie die beiden Buben der Fischerleute, das Handwerk der Fischer lernen. Er war geschickt, hatte keine Scheu vor dem Wasser und brachte schon bald reichen Fang nach Hause. Täglich fuhr er nun mit seinen neuen Brüdern hinaus aufs Meer und da kam es des öfteren vor, dass er zu ihnen sagte:
“Seht, da ist er wieder“ und damit meinte er den Delphin, der ihn also noch immer begleitete. Jedes Mal, wenn sie dem großen Fisch folgten, kamen sie zu so reichen Fischgründen, dass ihr kleines Boot anschließend die Fracht kaum tragen konnte. So kehrte bald ein bescheidener Wohlstand in die Fischerhütte ein. Die Fischerleute kamen immer mehr zu der Erkenntnis, dass ihnen ein gütiger Gott das fremde Kind geschickt hatte und waren von Herzen dankbar.
Wieder waren einige Jahre ins Land gegangen und eines Tages erzählte Fortunas seiner Familie, dass er seine Stadt gesehen habe. Weit draußen auf der funkelnden Wasserfläche sei sie im Sonnenlicht dahin geschwommen. Er habe sie zu erreichen versucht, aber immer, wenn glaubte ihr ganz nahe zu sein, sei sie wieder in die Ferne gerückt. Schließlich hätte er es aufgegeben, aber er werde weiter nach ihr forschen. Fernando, der alte Fischer, wollte nicht, dass sich seine Jungen zu weit hinaus wagten. Das Meer war tückisch und den jungen Burschen fehlte noch die Erfahrung. Aber Fortunas wollte sich von seinem Vorhaben nicht abbringen lassen und so kam es, dass er oft heimlich mit dem Boot hinausfuhr. Die Suche nach seiner Stadt war zu einer fixen Idee geworden und so wagte er sich immer weiter hinaus. Aber all sein Suchen und Forschen war vergeblich, die Stadt blieb verschwunden. Doch an einem schönen Sommertag, es war der 29. Juni, lag die Stadt plötzlich wieder weit draußen auf dem glitzernden Wasser. Jetzt erinnerte sich Fortunas, dass der 29. Juni der Geburtstag seiner Schwester Sylphidia war und dass an diesem Tag seine Insel im Meer verschwunden war. Wieder bemühte er sich vergebens der schwimmenden Stadt näher zu kommen. Gegenüber der Fischerfamilie hatte er von der Suche nach seiner Stadt nichts mehr berichtet. Er wollte die einfachen Leutchen nicht unnötig beunruhigen und vielleicht hätten sie ihn am Ende sogar für verrückt erklärt. Nur seiner Stiefschwester Donata erzählte er davon. Je älter das Mädchen wurde, desto mehr war in ihr eine tiefe Zuneigung zu dem angenommenen Bruder gewachsen. Genauso war es Fortunas ergangen und so gestanden die beiden sich eines Tages ihre Liebe. Den Eltern und den Brüdern wollten sie vorerst noch nichts von ihrer Neigung erzählen. So blieben sie weiterhin innig Vertraute und hüteten das Geheimnis ihrer Liebe. Als nun Donata von der schwimmenden Stadt hörte, bat sie Fortunas sie mit hinaus aufs Meer zu nehmen, um mit ihm zusammen das Wunder zu erleben.
“Da musst du aber noch ein Jahr warten, denn bis jetzt habe ich die Stadt immer nur am 29. Juni gesehen, sonst nie.“
“Gut dann warten wir eben, aber nächstes Jahr nimmst du mich mit, versprich mir das.“
Fortunas versprach es. So verging das Jahr, ohne dass sich etwas Ungewöhnliches ereignet hätte. Fortunas suchte nun auch nicht weiter nach der schwimmenden Stadt, denn er war sicher, dass sie nur an diesem einen Tag zu sehen war. Endlich kam der langersehnte Tag. Es war ein herrlicher Morgen als Donata zu Fortunas ins Boot stieg und weil Sonntag war, hatte das Mädchen ihr schönstes Kleid angezogen.
“Du siehst aus wie eine Braut“ sagte Fortunas und küsste sie „und so wie jetzt stelle ich mir meinen Hochzeitstag vor.“

Glücklich lächelnd ließ sich Donata von ihrem Liebsten hinaus aufs glitzernde Meer rudern. Die Beiden fieberten vor Erwartung, denn heute wollten sie ja die schwimmende Stadt erreichen. Immer weiter entfernte sich das Boot vom Ufer, bis es am Ende nur noch als ein kleiner Punkt zu sehen war. Als der Abend heraufdämmerte waren die beiden jungen Leute noch immer nicht zurück. Mehrmals ging Fernando mit seinen Söhnen hinunter zum Strand. Das Meer lag ruhig und friedlich, aber von dem Boot war weit und breit nichts zu sehen. Inzwischen war es Nacht geworden und mit jeder Stunde wuchs die Sorge der Fischerfamilie. Als die Vermissten am darauf folgenden Morgen noch immer nicht aufgetaucht waren, begann das ganze Dorf fieberhaft mit Booten draußen auf dem Meer nach den Beiden zu suchen. Vergebens. Fortunas und Donata blieben verschwunden und bis zum heutigen Tag weiß niemand, was ihnen draußen auf dem weiten Ozean zugestoßen ist.


Dieses Märchen wurde mir von Helga Sauermann zur Verfügung gestellt.