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Roy Raperpotz
Tiras Rapkeve


Copyright by Tiras Rapkeve, April 2002
published in Germany http//www.traeumeschenken.com
Tiras-Rapkeve@gmx.net


im Land der Träume
Gute Nacht Geschichten für Kinder und träumende Erwachsene


 

Wer ist eigentlich Roy Raperpotz?

Roy Raperpotz ist ein Prinz aus Traumania, dem sagenumwobenen Land der Träume, einem Ort, an dem all unserer Träume in einem geheimnisvollen Meer verborgen liegen. Seine Eltern brachten ihn in unsere Welt, an jenem Tag, als der schwarze Regen ihr Land zu zerstören begann. Doch nun ist die Zeit gekommen ihm entgegen zu treten, und Roy ist bereit in sein Königreich zurück zukehren. Zwar kann er sich noch an nichts erinnern, doch seine besten Freunde Racket und Romy stehen ihm hilfreich zur Seite. Roy muss es wieder lernen, das Träumeln. Das Träumeln? Was das ist? So nennt man es, den Menschen ihre Träume zu bringen. Denn immer wenn wir schlafen des Nachts, holen uns die Träumler in ihr Land und bescheren uns unsere Träume. Wahrhaft phantastisch. Nicht wahr? Doch Roy und Racket müssen das Träumeln erst noch lernen. Zusammen mit Romy und all den anderen Kindern in der Schule Raperpotz ziehen sie los um ihren Traummantel, Traumsand und schließlich ihren Konkel zu erringen, mit dem sie die Träume aus dem Meer der Träume in wunderbarer Weise zu den Menschen bringen. Und schließlich lernen sie hunduisch, die alte Sprache der Träumler, die nur von diesen gesprochen werden darf.

Nach zahlreichen Abenteuern werden sie die besten Träumler, die Traumania je gesehen hat. Sie bringen den berühmtesten Menschen ihre Träume: Christoph Kolumbus, König Artus und Spartakus, Marco Polo, König Salomo und Pharao Ramses, Galileo Galilei, Leonardo da Vinci, Nikolaus August Otto, Gutenberg, Einstein und vielen vielen anderen Persönlichkeiten und Wissenschaftlern.

Eine unglaubliche Reise beginnt für die Abenteurer im Land der Träume. Es ist nicht nur eine Reise in ein wahrhaft traumhaftes Land, es ist eine Reise durch die Geschichte der Menschheit, eine Reise durch Mythen und Sagen, durch die Sprache unserer Zeit.

Es ist eine Reise, die einen selbst träumen lässt in grenzenloser Phantasie und doch mit einem wunderbaren Bezug zur Realität. Es ist ein märchenhaftes Schulbuch, welches traumhaft einfach Wissen vermittelt und dabei eine unglaubliche Geschichte erzählt. Doch letzten Endes bleibt noch ein großes Geheimnis. Woher kommt der schwarze Regen?


Roy Rapperpotz und das verbotene Tor


Roy war ein kleiner schüchterner Junge mit blonden strubbeligen Haaren und einer seltsamen schwarzen Strähne darin, die ihn jeden Morgen beim Kämmen dermaßen ärgerte, dass er länger als all die anderen Jungen im Badezimmer brauchte, um sie zu bändigen. Doch so sehr er sich auch anstrengte, so oft er auch durch sie hindurch kämmte, er konnte diese Strähne nicht besiegen. Sie stand von seinen Haaren ab wie ein störrischer Esel, der nicht hören will. Alle anderen Kinder - besonders Greg, der größte Junge im Waisenhaus St. Jones - lachten ihn aus deswegen. Und gerade heute war die Strähne noch widerspenstiger als sonst. So sehr er sich auch mühte, so oft er auch versuchte, sie flach an seinen Kopf anzuschmiegen, immer wieder stellte sie sich auf und trotzte jeder Bewegung seines Kammes, so als ob sie sich heute ganz besonders hervortun wollte, als ob sie heute einen ganz besonderen Grund dafür hätte.

Von außen pochte bereits Greg an die Tür. „He, Rapperpotz! Roy Rapperpotz! Wenn du nicht gleich raus kommst, dann kannst du für immer drin bleiben.“

Um seine Worte zu betonen, stieß er noch einmal kräftig mit dem Fuß gegen die Tür. „Hast du mich verstanden, Rapperpotz?“

Roy packte hastig seine Sachen zusammen. Er hasste es, so genannt zu werden. Immer wieder hänselten ihn die Kinder wegen seines Namens. Rapperpotz. Roy Rapperpotz. Dies war wirklich ein sehr seltsamer Name. Roy Rapperpotz. Doch solange er denken konnte, hieß er schon so. Und ebenso lange lebte er schon in diesem Waisenhaus, weit außerhalb der Stadt, zusammen mit vielen anderen Kindern, die kein zu Hause mehr hatten. Er wusste nicht, wer seine Eltern waren, noch wusste er, wo er hingehörte. Keiner hier konnte ihm dies sagen und keiner wusste, wie er eigentlich in dieses Waisenhaus gekommen war, nicht einmal Direktor Finlox.

Roy öffnete die Tür und schaute vorsichtig hinaus. Von der Seite packte ihn Greg und zog ihn aus dem Bad. „Rapperpotz, du siehst aus wie ein Struwwelpeter. Was hast du eigentlich die ganze Zeit da drin getrieben?“ Er stupste ihn in die Seite. „Wegen dir werden wir noch alle zu spät zum Frühstück kommen!“ Er  schob Roy zur Seite und ging lauthals brüllend ins Bad.

Im Frühstücksraum waren bereits alle Kinder versammelt. Der Direktor, Herr Finlox, ein finster dreinblickender knorriger Mann, schritt vor der Reihe der Kinder entlang. Bei jedem hatte er etwas auszusetzen: „Steck dein Hemd richtig rein, Peter. Kopf hoch, Martin. Michael, putz deine Schuhe.“ Kurz vor Roy stoppte er seinen langsamen und schleppenden Gang und schüttelte den Kopf. „Rapperpotz, Rapperpotz. Du wirst es wohl nie lernen. Schau dich an. Weißt du, wie du aussiehst? Wie ein Kind von der Straße. Was soll nur aus dir werden?“ - „Aber..“, versuchte Roy sich zu verteidigen. „Nichts aber“, unterbrach ihn Finlox. „Jeden Morgen hast du die gleiche Ausrede. Du gehst sofort in den Keller zu Morella und lässt dir deine Haare schneiden, ist das klar?“

Die Kinder im Saal verstummten. Jeder fürchtete sich vor Morella. Sie war eine alte seltsame Frau, die im Keller von St. Jones hauste und nur selten ins Haus - geschweige denn in den Garten - kam. Einige behaupten sogar, sie wäre eine Hexe und hätte schon etliche kleine Kinder verhext. Alle Kinder, sogar Greg! hatten Angst vor ihr und jeder im Saal war froh, nicht an Roy’s Stelle zu sein.

Finlox stand wartend vor Roy und musterte ihn scharf. Roy drehte sich um und verließ den Frühstückssaal. Was sollte er tun? Was sollte er sagen? So hungrig er auch war, er musste sich fügen. Und da er zwar klein und schüchtern, aber keinesfalls feige war, schritt er die kalten Stufen hinunter in den Keller zu Morella. Doch eigenartigerweise - je tiefer er kam, desto weniger Angst hatte er. Ja, und obwohl er im Halbdunkel nicht viel sah, so kam ihm die Umgebung sogar irgendwie bekannt vor. Nur ein- oder zweimal war er in diesem Keller und so richtig konnte er sich gar nicht mehr daran erinnern, auch nicht an Morella, doch er spürte das eigenartige Gefühl, schon sehr oft hier gewesen zu sein. Er konnte es sich nicht erklären. Er kam zu einem Raum, der durch ein Kaminfeuer hell erleuchtet war, so dass er an den Wänden Regale mit seltsam anmutenden Gläsern sehen konnte. In der Mitte stand ein großer Holztisch mit vier Stühlen daran.  Vor dem Kamin stand gebückt eine Frau mit grauem, wallendem Haar. „Komm ruhig näher, Roy Rapperpotz. Ich habe schon auf dich gewartet. Du solltest eigentlich schon längst hier unten sein, schon seit Wochen. Was hat dich aufgehalten?“ Roy wusste nicht so recht, was er erwidern sollte. „Direktor Finlox hat mich eben erst hier herunter geschickt. Sie sollen mir meine Haare schneiden.“ - „Finlox, dieser Trottel“, erwiderte Morella empört, ohne sich vom Kamin weg zudrehen. „Haare schneiden. Ist das sein einziges Problem? Haare schneiden? Der hat keine Ahnung von dem, was hier wirklich vor sich geht. Setz dich Roy.“

Neugierig schaute sich Roy im Raum um. Als er sich setzte und wieder zum Kamin schaute, war Morella jedoch verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Er schaute in jede Ecke und jede Richtung, doch er konnte sie nicht mehr sehen. Er war ganz alleine. Dort saß er nun und wartete und wusste nicht was er tun sollte. Es saß dort bestimmt bis Mittag, doch es geschah nichts. Morella war verschwunden und kam nicht wieder zurück. So wartete er weiter, bis es schon fast dunkel war, denn Direktor Finlox hatte ihm eindeutig erklärt, dass er ohne einen neuen Haarschnitt nicht aus dem Keller zu kommen brauchte. Zum Glück fand er in einem Regal ein paar Äpfel und einen Kanten Brot. Damit stillte er seinen Hunger und er leerte für seinen Durst einen Krug Wasser, der auf dem Tisch stand. Doch allmählich wuchs in ihm die Sorge, dass Morella heute gar nicht mehr zurückkommen würde. Da erklang plötzlich eine leise, schnurrende Stimme. „Königliche Hoheit! Ein Glück, dass ich Euch gefunden habe.“ Roy schaute sich um. Es war niemand zu sehen. In der Ecke saß nur ein schwarzer Kater mit einigen weißen Haaren an der Kehle. Sonst war niemand da. Aber woher kam dann diese Stimme, die ihn mit königlicher Hoheit ansprach? „Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie lange ich Euch gesucht habe, Euer königliche Hoheit. Endlich habe ich Euch gefunden! Miau.“ Tatsächlich - es war der Kater, der zu Roy sprach. Roy konnte kaum seinen Augen und Ohren trauen. War dies hier etwa eine Hexenküche mit sprechenden Tieren? „Ihr müsst mir helfen. Ihr seid meine letzte Hoffnung. Ihr seid unsere letzte Hoffnung.“ - „Bist du das, der da zu mir spricht?“, fragte Roy ungläubig den schwarzen Kater. „Ja, natürlich bin ich es.“, erwiderte der Kater und stellte sich dabei auf die Hinterpfoten. „Erkennt Ihr mich denn nicht?“ - „Nein. Wer bist du denn?“, fragte ihn Roy erstaunt. „Ich bin’s, Racket. Euer treuer Freund Racket. Aber ja, ich hätte es mir denken müssen. Ihr erkennt mich nicht in dieser Tiergestalt. Ich vergesse immer wieder, dass ich ein Kater bin.“, sprach der Kater und sprang über einen Stuhl auf den Tisch. - „Sollte ich dich kennen?“ fragte Roy immer erstaunter. „Oh, ja. Natürlich. Wir sind die besten Freunde. Erinnert Ihr Euch nicht? Ihr müsst Euch doch erinnern. Wir waren jeden Tag zusammen. Ihr wisst schon, damals in Traumania. Bis dieser Regen kam und unsere Welt zu zerfallen begann.“ - „Wovon sprichst du da? Ich kann mich an keinen Regen erinnern.“ - „Ihr wisst wirklich nichts davon? Ihr habt alles vergessen! Oh, wir müssen uns beeilen. Wir müssen zurück in unsere Welt, bevor es zu spät ist, wenn es nicht jetzt schon zu spät ist.“ Roy war sehr aufgeregt. „In unsere Welt? Du weißt, woher ich komme?“ - „Ja, natürlich weiß ich es.“, schnurrte Racket und griff mit einer Pfote nach einem Apfel, der achtlos auf dem Tisch lag und biss genussvoll hinein. „Ihr seid Roy Rapperpotz, der jüngste Sproß der königlichen Familie Rapperpotz aus dem Land Traumania.“ Racket verneigte sich auf den Hinterbeinen stehend und mit dem Rest des Apfels in der Pfote tief vor Roy und zeigte dann mit der anderen Pfote auf seine strubbeligen Haare. „Und seit dem Regen habt Ihr auch diese schwarze Strähne, die Euch übrigens sehr gut steht, meint zumindest Romi. Naja. Da kann man wohl geteilter Meinung sein.“ - „Romi?“, fragte Roy erneut sehr aufgeregt, denn nun schien er sich doch an etwas zu erinnern. „Sagt bloß, Ihr habt auch Romi vergessen? Oh, wir müssen uns wirklich beeilen. Folgt mir!“ Racket ließ den Apfelrest auf den Tisch fallen und lief zu einer Seitentür in der hinteren dunklen Ecke des Raumes. Roy hatte sie vorher gar nicht wahrgenommen, doch als sie nun hindurch traten standen sie plötzlich mitten im Garten hinter dem Waisenhaus. Der Kater Racket lief bis zu der Hecke mit den buschigen Hainbuchen am anderen Ende des Gartens. Als er unter der Hecke hindurch schlüpfen wollte, stockte Roy: „Wir dürfen nicht hinter die Hecke. Direktor Finlox hat uns streng verboten, dahinter zu gehen.“ - „Vergeßt Direktor Finlox, Roy. Wir werden bald zu Hause sein. Kommt schon!“ 

Aus irgendeinem Grunde – auch, wenn sie sonst überall durch das Gelände stromerten -   hielten sich doch alle Kinder aus dem Waisenhaus fern von dieser Hecke. Es kam ihnen nie in den Sinn, dieses Verbot zu missachten. Auch Roy beschlich nun ein unangenehmes Gefühl, das er nicht so recht beschreiben konnte. Doch mutig folgte er dem Kater, der sich Racket nannte und das seltsame Gefühl wich schnell einem neuen, wunderbaren, einem, das er nie zuvor erlebt hatte. Doch er meinte es zu kennen aus Büchern, die er gelesen hatte. Es war das Gefühl der Heimat, das Gefühl, nach Hause zu kommen. Mit pochendem Herzen lief er Racket nach und zwängte sich durch die Hainbuchen.

Hinter der Hecke, neben großen Haselnussträuchern verborgen, lag ein kleiner Pavillon. Die Mauern waren bereits vergilbt und der Putz bröckelte von den Wänden. Der Eingang war gerade groß genug, um Roy problemlos hindurch zu lassen. Racket wartete ungeduldig auf ihn und tippte dann mit seiner Pfote gegen einen Stein in der Wand, auf dem ein Symbol, zwei quere gekreuzte Striche, eingeritzt waren. Ein seltsames Licht erstrahlte plötzlich und erhellte den gesamten Pavillon. Fast im selben Augenblick erklang eine tiefe Stimme direkt vor ihnen: „Wer stört die Ruhe des Wächters des verbotenen Tores?“ - „Miau. Ich bin es, Racket.“ hauchte der Kater sanft und ehrerbietig. „Ach, du bist es schon wieder. Du wirst es wohl nie aufgeben. Hast du das Rätsel gelöst?“ - „Nein“, antwortete Racket etwas verärgert, „aber ich habe einen Freund mitgebracht, ein Mitglied der königlichen Familie, siehst du? Es ist Roy Rapperpotz.“ - „Hm. Ja. Ich sehe. Es ist wirklich Roy Rapperpotz. Er trägt die schwarze Strähne im goldenen Haar. Hm. Dennoch muss auch er das Rätsel lösen, um durch das Tor zu gehen.“ - „Ja, ja.“, erwiderte Racket eifrig. „Stell ihm die Frage. Er wird sie beantworten. Er wird es wissen. Ich weiß es.“ - „Also gut.“, ertöne die Stimme, jetzt sogar noch tiefer als vorher. „Höre mir aufmerksam zu mein junger Freund:

Es ist ein Ort, den alle Menschen kennen.
Ob gut, ob böse, sie alle ihn Ihr eigen nennen.
Es ist ein Ort, an dem sich jeder Wunsch erfüllt,
ein Mantel, in den man sich des nächtens hüllt,
dort wo Erwachs‘ne wie die Kinder tollen,
und nie mehr von dort gehen wollen.
Ein Ort, an dem es keine Grenzen gibt,
an dem nur eins, der eigne Wille siegt,
zu dem man geht mit Freuden fort.
Sag mir, was ist das für ein Ort?

„Kennst du die Antwort, Roy Rapperpotz? Sag sie schnell, und ich öffne dir mein Tor.“ Roy dachte angestrengt nach. Ein Ort, den alle Menschen kennen? Ein Mantel, in den man sich des nächtens hüllt und wo sich jeder Wunsch erfüllt? Was konnte das nur sein? Von der Seite störte ihn Racket beim Nachdenken. „Wisst Ihr es, Roy? Ihr wisst es doch, nicht wahr? Sagt es dem Wächter. Ihr müsst es doch wi . . .“ Plötzlich erlosch das Licht an der Mauer und Racket sprang blitzartig durch eine Seitentür aus dem Pavillon. Von der anderen Seite kam Direktor Finlox herein gepoltert: „Rapperpotz, Roy Rapperpotz. Was machst du hier? Du solltest dir doch deine Haare schneiden lassen, du Lümmel. Wo hast du den ganzen Tag gesteckt?“ Er packte Roy am rechten Ohr und zerrte ihn aus dem Pavillon. „Ihr werdet es wohl nie lernen. Ihr solltet doch nicht hinter diese Hecke gehen. Habe ich euch das nicht tausendmal gesagt? He?“

Er hielt Roy so fest am Ohr, dass der arme Junge vor Schmerz das Gesicht verzog und zerrte ihn ins Haus. „Wir werden morgen weiter darüber reden. Jetzt aber ab ins Bett! Los!“ Er schubste ihn in sein Zimmer, wo Greg schon hemmungslos schnarchte und schloss die Tür. Roy stieg leise in sein Bett. Immer wieder musste er an Racket und an diese geheimnisvolle Welt denken, von der er ihm erzählte hatte und an das Rätsel, dessen Lösung  ihnen das verbotene Tor zu dieser Welt öffnen sollte, zu einer Welt, die angeblich seine eigene war. Und plötzlich wusste er die Lösung des Rätsels. Zufrieden und voller Erwartungen an den nächsten Tag schlief Roy todmüde unter seiner warmen und kuschligen Decke ein.


Roy Rapperpotz und das Orakel Guckifix


Am nächsten Morgen gab sich Roy weniger Mühe, seine Strähne glatt zu kämmen. Er wusste nun, dass es eine Ursache dafür gab und er wusste nun auch, dass er ein Mitglied der königlichen Familie war. Nun ja. Aber welcher königlichen Familie eigentlich und was für ein Königreich sollte das sein? Voller Ungeduld wartete er den ganzen Tag darauf, dass Racket sich bei ihm melden würde, doch er ließ sich nicht blicken. Als ob gestern nichts geschehen war, verlief der Tag wie alle anderen. Selbst Direktor Finlox schien sich an nichts zu erinnern, denn er sprach ihn nicht auf seine noch immer zerzausten Haare an und verlor auch kein Wort über den gestrigen Abend im Pavillon hinter der Hecke. Roy wunderte sich sehr darüber und langsam begann er schon daran zu zweifeln, den gestrigen Tag überhaupt erlebt zu haben.

Doch als es zu dämmern begann und alle Kinder aus dem Garten ins Haus zurückgekehrt waren, hörte er von der Seite ein leises Miauen und er meinte zu hören, wie jemand seinen Namen rief. Erschrocken blieb er stehen und drehte sich um. Außer ihm schien niemand weiter diese Stimme gehört zu haben, denn alle Kinder liefen weiter und verschwanden im Haus, Roy stand ganz alleine im Garten. „Racket? Bist du das?“ fragte er vorsichtig ins Dunkel. Von der Seite kam Racket auf Roy zugesprungen. „Roy! Euer königliche Hoheit! Wir müssen uns beeilen.“ Dann schaute er Roy mit großen Augen an. „Wisst Ihr die Lösung des Rätsels?“ - „Ja, ich denke schon.“ - „Ja, ja. Ihr werdet es schon wissen. Schließlich seid Ihr ein Mitglied der königlichen Familie. Ihr seid Roy Rapperpotz.“, antwortete Racket, seiner Sache völlig sicher. „Was ist das für eine Familie?“, fragte Roy wissbegierig. „Sind es meine Eltern? Leben meine Eltern noch?“ - „Hm. Naja. Das ist so eine Sache.“, antwortete Racket verlegen. Doch Roy wollte es nun endlich wissen. „Was ist das für ein Königreich? Du musst das doch wissen.“ - „Naja. Das ist so eine Sache. Ich weiß es nicht.“ - „Wie meinst du das, du weißt es nicht. Du weißt doch auch, dass ich ein Mitglied der königlichen Familie bin.“ - „Ja, das schon. Aber in dieser Welt hier ist alles ganz anders. Hier weiß man nur, was man wissen muss, nicht mehr.“ - „Das verstehe ich nicht.“ - „Kommt mit und Ihr werdet verstehen, wenn wir durch das Tor gehen.“

Racket verschwand wieder hinter der Hecke zu den Haselnussträuchern und Roy beeilte sich, ihm zu folgen. Im Pavillon legte er seine Pfote auf den Stein und schaute Roy mit erwartungsvollen Augen an. „Seid Ihr bereit, königliche Hoheit?“

„Ja.“, erwiderte Roy, fest entschlossen durch das Tor in diese geheimnisvolle Welt zu gehen. Die tiefe Stimme des Wächters ertönte. „Wer stört die Ruhe des Wächters des verbotenen Tores?“ - „Wir sind es, Racket und Roy Rapperpotz.“ - „Ach, ihr seid es schon wieder.“, antwortete der Wächter sichtlich verärgert, wieder in seiner Ruhe gestört zu werden. „Habt ihr das Rätsel gelöst?“ - „Ich denke schon.“, erwiderte Roy, nun doch etwas unsicher. „Nun gut.“, erhob der Wächter wieder seine Stimme:

„Nenn mir den Ort, zu dem die Menschen täglich ziehn. Nenn mir das Land, in das sie jede Nacht entfliehn, in dem sich jeder Wunsch erfüllt, in dem man nur mit Phantasie umhüllt. Es bringt in alle Kinderaugen Sand. Sag mir, was ist das für ein Land?“

 Mit fester Stimme antwortete Roy dem Wächter des verbotenen Tores: „Ich weiß, welches Land es ist. Es ist das Land der Träume.“ - „Potz Blitz!“ ertönte die tiefe Stimme des Wächters. „Ja, das ist es. Genau. Das Land der Träume.“ Racket schaute mit großen Augen zu dem Wächter. „Wie? Ist es so einfach? Das Land der Träume? Das hätte ich auch gewußt.“ - „Ich habe nie gesagt, dass es schwierig ist. Doch nun hinweg mit euch. Ich habe noch andere Dinge zu tun. Aber denkt stets daran:

„Wer das Land der Träume hier betrat, wird brauchen einst des Wächters Rat...“

Die Stimme des Wächters wurde immer leiser, Roy konnte ihn kaum noch verstehen.

„ ... denk stets an des Rätsels Lösung hier, das Hilfe bringen wird in Not zu dir...“

Weiter vernahm Roy nichts mehr, denn die Fugen der Mauer begannen zu verschwimmen und wie durch einen Schleier hindurch sah Roy die Umrisse eines Weges, auf den Racket schon hinauf gesprungen war. Er folgte ihm und es begann eine phantastische Reise in eine Welt, die Roy schon oft in seinen Träumen gesehen, die er aber nie verstanden hatte.

Sie waren kaum durch das Tor gegangen, da verwandelte sich Racket in einen Jungen, etwas kleiner sogar noch als Roy, mit schwarzen Haaren und lustigen runden braunen Augen, die vor Freude strahlten, endlich wieder zu Hause zu sein. Er sprang lauthals singend in die Luft und ruderte mit seinen Armen, als ob er gleich abheben und in die Wolken fliegen wollte.

Neugierig schaute sich Roy um. Sie standen auf einem steinernen Weg mit herrlich blühenden Ebereschen zu beiden Seiten und die Luft duftete nach Frühling und Sonne. Weite Wiesen mit wunderschönen Blumen, die lustig in einer sanften Brise hin und her schwankten und miteinander zu spielen schienen, erstreckten sich bis zum Horizont. Racket ruderte noch immer mit den Armen, doch sprang er jetzt dazu noch hoch in die Luft, so als ob er die kleinen Wolken, die sanft über ihm im Wind tanzten, einzufangen versuchte. Und, Roy konnte es kaum glauben, eine der Wolken kam tatsächlich zu ihm herunter, so dass Racket sie sogar berühren konnte. Sobald diese kleine Wolke seinen Finger spürte kam sie ganz zu ihm herab geschwebt, und begann sich zu strecken und zu recken und verformte sich schließlich in eine wunderschöne Kutsche, mit Rädern aus plauschigen Wolken und wohlig weich aussehenden breiten Sitzen. Diese Kutsche - nun ja, diese verwandelte Wolke in Gestalt einer Kutsche - schwebte vor ihnen auf dem Weg und wartete nur darauf, sie durch dieses Meer der Phantasie, durch diese wunderbare Traumwelt zu tragen. Es war ein wunderschöner Tag und Roy konnte gar nicht genug sehen von dieser neuen Welt. Nur hinten, weit weg in der Ferne, stand eine Wolke, die anders als all die anderen aussah, die dunkel und finster erschien, jedoch so weit weg war, dass keiner der beiden Jungen sie beachtete.

Racket war noch immer völlig außer sich. „Roy, wir haben es geschafft! Wir sind wieder zu Hause. Jetzt wird alles gut.“ - „Wo sind wir hier?“, fragte Roy verwirrt. „Irgendwie kommt es mir bekannt vor. Doch ich kann mich nicht erinnern.“ - „Wie? Ihr wisst immer noch nicht, wo wir sind?“, fragte Racket erstaunt. „Nein.“, antwortete Roy. „Wie kann das sein? Wir sind zu Hause, Roy. Das ist unser Land, das ist Traumania. Erkennt Ihr es denn nicht?“ Roy schüttelte traurig den Kopf. „Ich weiß es nicht mehr.“

Racket packte Roy am Ärmel und zog ihn zu der Kutsche. „Es ist noch schlimmer geworden als zuvor. Wir müssen sofort zu Guckifix.“ - „Guckifix?“, fragte Roy erstaunt. „Ja, unser Orakel Guckifix. Den kennt Ihr auch nicht?“ - „Nein.“, antwortete Roy traurig. „Aber den kennt doch jeder hier. Er ist das königliche Orakel. Ihr müsst ihn doch kennen!“ Racket konnte nicht glauben, dass Roy alles vergessen haben sollte. „Tut mir leid, Racket. Ich kenne ihn nicht.“ Nachdenklich schüttelte Racket mit dem Kopf. „Also gut. Kommt mit.“

Er machte sich nun ernsthaft Sorgen. Roy hatte wirklich alles vergessen. Er konnte sich so gut wie an nichts mehr erinnern. Sie stiegen in die Kutsche und Racket befahl der Wolke sie zu Guckifix zu bringen. Sie flogen den steinigen Weg entlang, vorbei an den zahlreichen Ebereschen, über riesige wunderschöne Wiesen, mit Blumen, die Roy noch nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte, und die Blumen lächelten ihnen freundlich zu und wiegten sich in der Sonne, die ihre herrlichen Farben zum Leuchten brachte, und Roy meinte zu hören, wie sie tuschelten, wenn ihre Kutsche ab uns zu in ihre Nähe kam. „Sieh nur, das ist Roy Rapperpotz. Siehst du diese schwarze Strähne? Ja, er ist es. Wirklich? Ja, er ist es wirklich. Ah. Roy Rapperpotz. Er wird den Regen besiegen. Meinst du? Ob er es schaffen wird? Ja er wird es schaffen, ganz sicher.“

Er verstand nicht, was sie meinten, noch nicht, und so sah er gebannt nach unten als die Kutsche nun auf ein riesiges Meere hinaus flog, bis plötzlich eine Insel auftauchte, auf der ein einsamer Drachen Feuer spie, obwohl weit und breit niemand zu sehen war. „Ah, da ist ja Dragon, unser guter alter Dragon.“, sagte Racket erfreut den Drachen zu sehen. „Was ist den mit ihm?“, fragte er dann mehr zu sich selbst als zu Roy. „Er ist ja ganz aufgeregt. Was hat er denn nur? Sonst ist er ganz friedlich, glaubt mir euer königlicher Hoheit.“ Roy nickte mit dem Kopf und sie flogen weiter über das Wasser, bis sie einen großen Dreimaster erblickten, auf dessen Bug ein Mann stand, der nachdenklich in die Ferne schaute.

„Wer ist das?“ wollte Roy wissen. „Das ist Kolumbus.“, antwortete ihm Racket bereitwillig. Obwohl sich Roy ganz genau an die Geschichtsstunden in St. Jones und auch an den Namen Christopher Kolumbus erinnern konnte fiel ihm doch jetzt partout nichts weiter dazu ein. Also fragte er Racket: „Wer ist Kolumbus?“

„Kolumbus ist ein Mann mit großen, wunderbaren Träumen. Er fährt über das weite Meer, um einen neuen Seeweg nach Indien zu finden. Nur die besten Schüler dürfen ihm seine Träume bringen.“ Fasziniert blickte Roy auf Schiff und Mann, bis sie langsam am Horizont verschwanden. „Aber wie kommt er denn hierher, auf dieses Meer? Führt dieser Weg denn nach Indien?“, fragte er verwundert. „Nein.“, schmunzelte Racket. „Er träumt es nur. In der richtigen Welt dort draußen schläft er gerade, so dass er unserer Welt träumen kann.“  - „Aha.“, sagte Roy beeindruckt und schon flogen sie weiter über die Küste dieses riesigen Meeres über einen weiten Wald mit mächtigen Buchen und Eichen, und Roy konnte zwischen all diesen majestätischen Bäumen sogar einige besonders große Haselnussträucher erkennen, solche wie er sie auch schon hinter der Hecke des Waisenhaus St. Jones gesehen hatte. Die Blätter der alten Buchen und Eichen waren gerade noch grün, im nächsten Augenblick erstrahlten sie jedoch in den prächtigsten Farben des Herbstes, bis die Bäume alle ihre Blätter schließlich abwarfen, um wenige Augenblicke später erneut zu grünen.

Roy war ganz und gar von diesem Schauspiel gefangen, als durch die gerade noch kahlen Bäume direkt vor ihnen plötzlich ein mächtiger Kopf empor ragte und zur Seite in die Ferne schaute.

„Der Riese Arba!“, rief Racket bestürzt und Roy konnte sich kaum noch richtig festhalten, als die Kutsche auch schon in die Höhe schoss. Langsam schwebte sie nun über dem Kopf, der dem Riesen Arba gehörte, so dass sie ihn aus sicher Entfernung beobachten konnten. „Da haben wir ja noch mal Glück gehabt, eure königliche Hoheit.“, sagte Racket glücklich. „Der Riese Arba ist ein ziemlich schrecklicher Geselle, wisst ihr. Schaut nur diese Narbe auf seiner Wange, wie entsetzlich sie aussieht. Gott sei Dank hat er uns nicht bemerkt.“, fügte er erleichtert hinzu. „Wisst ihr, er ist der größte Riese aller Anakiter.“ In der Tat sah dieser Riese namens Arba sehr furchteinflößend und kriegerisch aus. Seine starken Arme schienen wahrhaft all die Bäume um ihn herum mit Leichtigkeit ausreißen zu können, und auf seinem kräftigen und langen Hals saß ein riesenhafter Kopf mit zerzausten tiefschwarzen Haaren und einem Mund, in dem Racket und Roy ganz sicher hinein gepasst hätten. Wenn alle Riesen, die Racket Anakiter nannte, so aussahen, dann hatte Roy nicht die geringste Lust auch nur einen von ihnen näher kennen zu lernen. Doch Arba war nun ganz und gar nicht böse. Er stand einfach nur so da, mit müden und traurigen Augen, und beachtete die Wolkenkutsche über ihm überhaupt nicht.

„Die anderen sind ja auch alle da.“, rief Racket bestürzt aus, nachdem die Kutsche langsam an dem Riesen Arba vorbei immer weiter flog. „Da ist ja auch Arba‘s Sohn Anak und all die anderen Riesen.“ Nur mühsam konnte Roy seinen Blick von dem gewaltigen Arba hinter ihm lösen und sah nun vor sich noch weitere riesenhafte Geschöpfe auf dem Waldboden sitzen, die wie Arba irgendwo ins Nichts starren.

„Normalerweise sitzt die Riesen nicht so ruhig und friedlich da.“, grübelte Racket. „Normalerweise darf man ihnen kein Stück zu nahe kommen. Aber irgendetwas scheint nicht ganz in Ordnung zu sein mit den Anakiten. Hm.“, rätselte Racket. „Oh, mein Gott. Ich sehe es. Das gibt’s doch nicht. Jetzt hat er auch schon die Riesen erwischt.“ - „Was?“, fragte Roy sofort neugierig. „Was hat die Riesen erwischt?“ - „Oh mein Gott. Er ist es wirklich.“ - „Wer ist es?“, fragte Roy noch einmal ungeduldig.“ - „Der schwarze Regen!“, rief Racket entsetzt. „Schaut nur. Ihre Kleider sind ganz schwarz und auch die Haare scheinen wie mit Pech beschmiert zu sein.“

„Der schwarze Regen? Was für ein schwarzer Regen?“, fragte Roy aufgeregt weiter und betrachtete die Riesen nun noch genauer. Und tatsächlich. All ihre Körperteile waren mit einer eigenartigen schwarzen Masse benetzt. An einigen Stellen hatte dieser schwarze Regen sogar Löcher eingebrannt, und auch die Haar der Riesen waren durch ihn verklebt und gaben ihnen diese eigenartige schwarze Farbe. „Was ist das für eine Regen?“, fragte Roy entsetzt. Racket blickte Roy nun mit zitternder Stimme direkt in die Augen. „Er ist schrecklich, euer Hoheit. Er kommt blitzschnell und bringt nur Unheil. Und nachdem er ebenso schnell wieder verschwunden ist bleibt nur noch dieses Chaos hier, nichts Gutes lässt er übrig, glaube ich.“ Traurig schaute Racket wieder aus der Kutsche zu den Riesen hinunter und schüttelte nachdenklich den Kopf, so dass er Roy‘s nächsten Worte erst gar nicht richtig wahrnahm.

„Was meint ihr?“, fragte er deshalb nach. „Woher kommt denn dieser Regen, Racket? Bist du ihm schon einmal begegnet?“, wiederholte Roy noch einmal seine Frage. „Ehhh.“, begann Racket zu stottern. „Eigentlich nicht so richtig. Ich habe nur meine Eltern davon reden hören. Er war auch nicht so häufig bisher, wisst ihr. Er ist erst vor ein paar Jahren ganz am Rande unseres Landes erschienen. Aber jetzt scheint er ja überall zu sein. Ich verstehe das nicht.“ Wieder schüttelte Racket seinen Kopf und schaute nach unten. „Weißt du denn woher dieser Regen kommt?“, fragte Roy weiter. „Eh. Nein. Niemand weiß es. Vielleicht weiß es ja unser Orakel Gu...“  Doch noch bevor Racket zu Ende reden konnte, flog die Kutsche mitten auf einen Berg zu. Roy glaubte schon voller Schreck, sie würden an der Felsenwand zerschellen, da öffnete sich die Wand vor ihnen und gab den Weg in einen langen Tunnel frei. Roy spürte die Kälte des Felsen um ihn herum. Er konnte nichts mehr sehen. Es war stockfinster. Roy und Racket rasten durch den Felsen und schrieen dabei lauthals ins Dunkle. Plötzlich erschien ein gleißendes Licht am Ende des Tunnels und die Kutsche schoss wieder aus dem Berg heraus auf eine Lichtung hoch oben auf dem Berg. Zwischen all den Gipfeln war es ruhig und friedlich. Die Kutsche hielt auf einem Weg, der zu einem seltsamen Gebilde führte. Dann begann sie sich plötzlich in lauter kleine Wölkchen aufzulösen. Roy und Racket mussten schnell hinaus springen, um nicht auf den Hosenboden zu fallen.

Racket lief munter den Weg entlang. „Kommt schon, Roy! Wir müssen dort hinauf.“ Sie gingen mit vielen kleinen Wolken zwischen ihren Füßen zu jener seltsamen Gestalt, die, je näher sie kamen, einer riesigen Uhr immer ähnlicher wurde. Doch konnte Roy keine Zeit ablesen, denn nirgendwo war ein Zeiger zu entdecken, was ihn sehr wunderte. „Was ist das für eine seltsame Uhr, an der man keine Zeit ablesen kann?“ fragte er. „Das ist die Uhr des Guckifix.“ lautete die Antwort. „Die einzige Uhr im ganzen Land der Träume. Sie zeigt keine Zeit, weil für jeden in seinen Träumen die Zeit anders verläuft. Für einen schneller, für den anderen langsamer. Hattet Ihr noch nie dieses Gefühl, wenn Ihr träumtet?“ - „Doch, irgendwie schon.“, musste Roy zugeben. „Aber wozu nützt eine Uhr, wenn man keine Zeit darauf ablesen kann?“ - „Nur Guckifix kann an dieser Uhr die Zeit lesen. Er ist unser Orakel. Nur er weiß es.“ antwortete Racket ernst.

Sie waren schon fast an der großen Uhr angekommen, als plötzlich eine leise, quieksende Stimme ertönte. « Au! Du Tolpatsch! Pass doch auf, wo du hintrittst!“ Roy sprang erschrocken zur Seite. „Könnt ihr denn nicht aufpassen, wo ihr lang geht mit euren großen Füßen!“ Es war eine dieser kleinen Wolken durch die Roy nichtsahnend hindurchgetreten war, so wie vorher auch durch all die anderen Wölkchen, in die sich ihre Kutsche aufgelöst hatte. Aber diese kleine Wolke hier war anders.  „Entschuldige bitte, ich wusste nicht, dass ich dir weh tue.“ - „Papperlapapp, Entschuldigung. Ist das vielleicht ein Art, durchs Leben zu gehen?“, empörte sich das Wölkchen. „Mach doch deine Augen auf! Was wollt ihr eigentlich hier?“ - „Wir suchen Guckifix. Weißt du, wo er ist?“ - „Was wollt ihr denn von ihm? Ihr Dreikäsehoch.“ - „Das geht dich gar nichts an.“, antwortete Racket frech dem seltsamen Wölkchen. - „Oh, ihr wollt mir nicht sagen, was ihr von ihm wollt? Bitte sehr. Ihr Geheimniskrämer. Dann könnt ihr lange suchen. Von mir jedenfalls werdet ihr nichts erfahren.“ Aus dem Inneren der Uhr ertönte eine freundliche, jedoch auch strenge Stimme: „Schluss jetzt, Schössel. Lass die Jungen rein.“

Widerwillig öffnete das Wölkchen mit dem Namen Schössel die Tür zur Uhr und babbelte dabei missgelaunt vor sich hin. „Diese Lümmel wollen mir nicht sagen, was sie wollen. Diese Dreikäsehoch. Denen werde ich’s noch zeigen.“

Als Roy die Uhr betrat, wurde der Innenraum größer und größer und bald standen sie in einem gemütlichen und geräumigen Zimmer. An jeder Wand hingen Zahnräder, und überall waren tickende Instrumente zu sehen. An der Hinterwand war eine Waage befestigt, vor der ein alter Mann stand, der eifrig bemüht war, glitzernde Sterne auf eine Seite der Waage zu schütten. Er hatte einen weißen Bart, der fast bis auf den Boden reichte. „Komm herein, Roy Rapperpotz.“ winkte er Roy zu, ohne sich dabei umzudrehen. „Ich habe schon auf dich gewartet. Morella sagte mir, dass du bald kommen würdest.“ - „Sie kennen Morella?“ fragte Roy erstaunt. „Oh, ja, natürlich kenne ich sie. Und du wirst sie auch bald wiedersehen, aber setz dich doch und dein Freund Racket auch.“ Racket wurde ganz verlegen. „Meister Guckifix, ich habe ihn hier hergeholt, zurück nach Traumania, so wie Ihr es mir aufgetragen habt. Aber wir haben ein Problem: Er kann sich an nichts erinnern.“ - „Ich weiß, mein Freund. Es ist nicht deine Schuld, dass er sich an nichts erinnern kann. Es ist dieser Regen.“

Guckifix hatte nun wohl genug Sterne auf die Waage gelegt, denn sie bewegte sich nicht mehr. Zufrieden drehte er sich zu den beiden Jungen um. „Weißt du, wer du bist?“ fragte er Roy. Der antworte traurig: „Nein. Ich wohne im Waisenhaus St. Jones, weil meine Eltern tot sind. Ich weiß nicht, wer sie waren. Ich weiß nicht, wer ich bin.“ - „Weißt du, wo du bist?“ fragte Guckifix weiter. „Im Land der Träume?“ meinte Roy vorsichtig. „Ja, im großen Land der Träume, in Traumania.“ erwiderte Guckifix. „In unserem Land, dass viele Königreiche und unzählige Landteile besitzt. Und eines davon, ein ganz besonderes Königreich, ist dein zu Hause, ist das Königreich der Familie Rapperpotz, deiner Familie.“ - „Aber warum weiß ich dann nichts davon? Nichts von meiner Familie, nichts von meinen Eltern?“ wollte Roy sehr aufgeregt wissen. „Es begann vor einiger Zeit, im Grunde ist es noch gar nicht so lange her, da kam ein fürchterlicher Regen über die Grenzen unseres Landes und begann die Träume hinwegzuwischen. Niemand wusste woher und niemand wusste warum. Auch dein Vater schickte seine besten Männer gegen diesen Regen, doch alle, die ihn erreichten, vergaßen, was sie tun sollten, vergaßen alles um sich herum und vergaßen schließlich sogar sich selbst. Er kommt blitzschnell und geht auch genauso schnell wieder. Eines Tages kam er auch in das Königreich des König Rapperpotz, deines Vaters. Er kam über die Mauern in den königlichen Garten und du, mein Junge, bist hinein geraten in diesen Regen und alle deine Erinnerungen begannen zu schwinden. Fast wärst du geworden wie all die anderen. Weißt du Roy,... »  Er berührte sanft sein Haar. „... diese Strähne in deinen Haaren hast du seit jenem Tag. Der Regen hat die Farbe und alle Erinnerungen heraus gewaschen. Doch deine Eltern haben dich gefunden, bevor es zu spät war und haben dich in diese Welt dort draußen gebracht. Sie haben dich versteckt vor dem großen Regen, bis die Zeit kommen wird, sich ihm entgegen zu stellen. Und diese Zeit ist jetzt gekommen, mein Junge.“  - „Wo sind meine Eltern jetzt?“, fragte Roy, begierig, mehr über seine Familie zu erfahren. „Deine Eltern sind noch immer in der anderen Welt. Doch je länger sie weg sind aus unserem Land, um so mehr vergessen sie und um so leichter hat es der Regen, alle verbleibenden Erinnerungen zu verwischen. Du musst dich beeilen, um sie zu retten.“ - „Aber wie soll ich das tun?“ - „Du musst den heiligen Somnel finden. Nur dann kannst du den Regen besiegen. Nur dann kannst du deine Eltern retten.“ - „Was ist denn der heilige Somnel?“ Roy hatte noch nie davon gehört. „Der heilige Somnel ist der glitzerndste und schillerndste Traum, den es gibt in unserem Land. Er ist es, wonach sich alle Menschen sehnen. Seine Macht kann alles und jeden besiegen.“ - „Aber wo finde ich denn diesen Somnel?“ fragte Roy unglaublich aufgeregt. „Ich weiß es nicht, mein Junge. Sotalex ist der Hüter des heiligen Somnel. Zu ihm musst du finden in deinen Träumen, ihn wirst du sehen, wenn dein Herz rein und dein Geist klar ist. Wenn du den Menschen ihre Träume zurückbringen kannst, wirst du ihn finden.“ - „Aber wie soll ich den Menschen ihre Träume bringen? Ich weiß nicht, wie das geht.“ Guckifix schüttelte nachdenklich sein weißes Haupt. „Dann musst du es lernen. Und du musst dich beeilen, Roy.“ - „Aber wie soll ich es lernen und wo? Ich verstehe doch nichts davon.“ - „Es gibt noch eine Schule. Eine einzige wurde verschont. Bei ihr konnte der Regen noch nicht sein fürchterliches Werk vollbringen. Es ist eine ganz besondere Schule. Es ist die Schule Rapperpotz.“ - „Aber das ist ja ...“ fiel Roy Guckifix ins Wort. „Ja, Roy. Du trägst den gleichen Namen wie diese Schule. Dort musst du hin und lernen. Du musst dich beeilen. Wir haben nicht mehr viel Zeit.“ - „Wie soll ich dorthin finden? Ich weiß doch nicht, wo diese Schule ist.“ - „Schössel wird euch begleiten. Sie wird euch zeigen, wo sie ist und sie wird euch helfen, den Somnel zu finden.“ - „Was ich? Wieso ich?“ empörte sich Schössel von der Seite. „Wieso muss ich denn mit, mit diesen zwei halben Portionen?“ - „Sie werden deine Hilfe brauchen, Schössel. Also benimm dich.“ - „Die werden es doch nie schaffen. Ich will nicht mit. Ich will lieber hier bleiben.“ - „Du gehst mit. Keine Widerrede. Und jetzt legt euch hin und schlaft. Ihr habt morgen einen weiten Weg vor euch.“ Widerwillig flog Schössel hinter eines der großen Zahnräder und schloss die Augen. „Immer muss ich den Karren aus dem Dreck ziehen. Warum nur immer ich?“ Doch Roy hörte sie schon gar nicht mehr. Zu aufregend war dieser Tag und zu müde war er jetzt. Doch nun hatte er endlich etwas über seine Eltern, über sich selbst erfahren. Und voller Erwartungen an den nächsten Tag schlief Roy neben Racket in dem großen Himmelbett ein, das Guckifix auf dem Boden der Uhr aufgeschlagen hatte.


Roy Rapperpotz und der Traum des Spartakus


Roy musste plötzlich niesen. Irgendetwas stieg ihm in die Nase. „Hatschie!“ nieste Roy wieder. „Hatschie! Hatschie!“ Doch Schössel gab nicht auf. Sie schwebte über seinem Gesicht und kitzelte dabei unaufhörlich seine Nase. „Los, Los! Raus aus den Federn ihr Schlafmützen. Die Sonne steht schon weit oben am Himmel.“ Racket drehte sich noch einmal um und gab nur undeutliche Wortfetzen von sich. „Hm? Aufstehen? Mitten in der Nacht? Noch eine halbe Stunde.“ mit diesen Worten vergrub er sich wieder unter seiner Decke. Doch er hatte nicht mit Schössels Hartnäckigkeit gerechnet. Sie schwebte über den beiden und preßte sich so fest zusammen, dass sich eine ordentliche Portion Wasser auf die Jungen entleerte. Völlig durchnäßt sprangen die beiden erschrocken aus ihren Betten. „Was soll das, Schössel? Wir kommen doch schon!“

„Wir müssen uns beeilen.“, erwiderte Schössel missgelaunt. „Wir haben einen weiten Weg vor uns. Also los, ihr Langschläfer. Meister Guckifix ist schon in den Bergen, um neue Sterne einzusammeln und ihr verschlaft den ganzen Tag.“ Schnell aßen die beiden Jungen etwas Obst, das für sie auf dem Tisch lag, sprangen dann eilig auf und folgten Schössel nach draußen, wo bereits ihre wundersame Kutsche zur Abfahrt bereitstand. Sobald sie eingestiegen waren, erhob sich die Kutsche in die Höhe und flog dem fernen Ziel entgegen, das eigenartigerweise den selben Namen trug wie Roy.

Soviel hatte Roy in den letzten beiden Tagen erlebt, das Tor im Garten des Waisenhauses St. Jones, welches ihm nun schon so weit weg vorkam, diese wunderbare Welt hier mit Riesen in seltsamen Wäldern, mit Drachen und kleinen Wolken, die sprechen konnten, einem Orakel namens Guckifix, der die Zeit an einer Uhr ohne Zeiger misst und der ihm von seinen Eltern erzählte und von einem heiligen Somnel, den er finden sollte, um seine Welt zu retten, von der er bis vor ein paar Tagen noch nicht einmal wusste, dass sie existierte. So viel Neues hatte er erlebt, dass ihn nun gar nichts mehr zu überraschen schien, nicht einmal die Heerscharen von Soldaten in römischen Gewändern, die plötzlich vor ihnen auftauchten. So weit das Auge reichte, standen sie in Haufen zum Kampf bereit. Es waren bestimmt weit über hunderttausend Mann. Ihnen gegenüber sah Roy viele zerlumpte Gestalten mit zersprengten eisernen Fesseln an ihren Händen und Füßen. Geschunden sahen sie aus mit ihren in Fetzen gehüllten Körpern. Und obwohl einige wenige von ihnen auch recht gut gekleidet waren, so sah Roy doch auch in ihren Gesichtern das Leid und den Schmerz der Gefangenschaft. Aber er sah auch Stolz in ihnen und Entschlossenheit, für ihre Freiheit zu kämpfen und auch für sie zu sterben.

Vor dieser seltsamen Menge stand ein Mann, nicht größer oder kräftiger, aber doch noch stolzer und noch entschlossener als all die anderen. Als sich die Kutsche den zerlumpten Menschen näherte, verstand Roy den Namen, den die Männer ununterbrochen riefen: „Spartakus, Spartakus!“ Es hallte weit über das Land: „Spartakus, Spartakus!“ Die römischen Soldaten schienen zu erzittern bei dem Widerhall dieses Namens, denn sie sahen nun noch kleiner und erbärmlicher aus als zuvor und Angst stand ihnen ins Gesicht geschrieben, als sich die Menge in Bewegung setzte.

Roy sah, wie von Spartakus ein seltsames Licht ausging. Ein seltsames und wunderbar leuchtendes Licht, so wie das Leuchten der Sterne auf Guckifix Waage. Es erstreckte sich über das gesamte Feld und tauchte alles um sich in ein gleißendes Feuer. Und dann – wie von einem Blitz getroffen - leuchtete Spartakus noch heller und noch intensiver. Er strahlte weit und blendend über das Feld. Und - ja, tatsächlich - da kam noch ein Blitz von weit oben auf ihn herab geschossen. Direkt aus dem Himmel, wie Roy glaubte. Doch als er nach oben blickte und die Augen fest zusammenkniff, sah er dort einen Jungen durch die Luft schweben, der immer näher kam und unheimlich schnell zwischen all den Menschen umherflog. Dabei schoss er mit einem seltsamen Gerät diese Blitze ab. Es war eine Art Kugel, die im Licht der Sonne funkelte. Doch so genau konnte Roy es gar nicht sehen, denn dieser Junge trug einen silbernen Mantel, der ihn fast vollständig verhüllte und aus dem Staub wie Sterne auf alle die Menschen unter ihm fiel.

Aufgeregt schaute Roy diesem Treiben zu. So etwas hatte er noch nie gesehen. Noch nie in seinem ganzen Leben hatte er so etwas eigenartiges erlebt. Was tat dieser Junge dort nur, inmitten dieser vielen Menschen? Niemand schien ihn zu bemerken, niemand schien ihn wahrzunehmen. Er flog durch sie hindurch und verstreute seinen Zaubersand und feuerte seine Blitze ab, die jedoch nur Spartakus trafen. Doch irgendwie schien etwas nicht zu stimmen, denn Roy sah, wie die Soldaten und Sklaven noch wütender und zorniger wurden und wild aufeinander losstürmten. „Was ist dort los?“ rief Roy aufgeregt. Ohne die Augen von dem Spektakel zu lassen, antwortete Racket. „Das ist Spartakus, der Führer der Sklaven. Er führt sie gegen die römischen Legionen.“ - „Jaja, ich kenne Spartakus aus der Schule.“, erwiderte Roy schnell. „Er kämpft für die Freiheit, für seine eigene und für die aller Sklaven. Aber wer ist dieser Junge, der zwischen all den Menschen herum fliegt und diese Blitze abfeuert?“ - „Ich weiß nicht wer das ist, aber es muss jemand aus der Schule sein. So wie er durch die Luft fliegt, dass lernt man nur in einer Schule. Und so wie es aussieht hat er es in der besten gelernt, in Rapperpotz, der letzten noch verbliebenen Schule.“, seufzte Racket und wurde dann sehr nachdenklich. „Hm! Soviel ich weiß darf normalerweise kein Schüler in diesem Landesteil träumeln.“ - „Träumeln?“ Roy riß neugierig die Augen auf, da er dieses Wort noch nie gehört hatte. „Ja, träumeln. Ihr wisst nicht, was träumeln ist?“ - „Nein.“ - „Oh, entschuldigt bitte. Ihr habt ja alles vergessen. So nennen wir es, den Menschen ihre Träume zu bringen.“ - „So werden den Menschen ihre Träume gebracht?“ Roy war sehr beeindruckt. „Nun ja. Irgendwie schon.“ Roy merkte, dass Racket sehr nervös wurde. „Ich weiß auch nicht genau. Ehrlich gesagt habe ich so etwas auch noch nie gesehen.“

Racket hatte schon oft versucht, in eine der einst so vielen Schulen Traumanias aufgenommen zu werden. Liebend gern würde er das Träumeln lernen. Liebend gern würde er mehr über sein eigenes Land Traumania mit all seinen Geheimnissen und Rätseln erfahren. Doch bisher hatte er nie die Aufnahmeprüfungen bestanden. So sehr er sich auch bemühte, so sehr er sich auch endlich zu träumeln wünschte - in jeder Schule war er durchgefallen. Immer wieder musste er erfolglos nach Hause zurückkehren, ohne seinem großen Ziel auch nur ein kleines Stückchen näher gekommen zu sein. Und da die Aufnahmeprüfung in der Schule Rapperpotz besonders schwierig ist, und nur die besten der besten dort das Träumeln lernen durften, ist es ihm nie in den Sinn gekommen, sich in dieser geheimnisvollen Schule zu bewerben. Doch nun, nun war alles ganz anders. Nun hatte er die Gelegenheit bekommen mit Roy Rapperpotz, dem berühmten Roy Rapperpotz, eben diese Schule zu besuchen, und er freute sich darauf. Auch wenn er jetzt schon wieder Angst vor dieser ganz besonderen Aufnahmeprüfung in Rapperpotz spürte, so wusste er doch, diesmal hatte er eine gute Chance. Diesmal hatte er den besten Träumler an seiner Seite. Diesmal würde alles ganz anders werden. Und dieses Selbstvertrauen verleitet ihn nun dazu, so zu tun, als ob er bereits ein Experte im Träumeln wäre, was Roy natürlich sofort bemerkte. Doch es störte ihn nicht weiter und Racket dachte nun auch nicht mehr an die Aufnahmeprüfung, sondern schaute dem Treiben vor ihnen zu. Spartakus stürmte mit seinen Sklaven auf die Römer zu und das Licht, welches immer intensiver von ihm ausstrahlte, verwandelte das gesamte Schlachtfeld in ein riesiges Feuermeer. Schössel hatte sich ganz klein gemacht und war in Roy’s Rucksack verschwunden. Von dort schaute sie vorsichtig mit einem Auge hervor. „Irgenetwas stimmt hier nicht.“ flüsterte sie leise. „Wie meinst du das, Schössel?“ - „So wird nicht geträumelt.“  Roy sah Racket fragend an, doch der zuckte nur mit den Schultern. Dann wand er sich wieder Schössel zu. „Woher weißt du das, Schössel?“ - „Ich weiß es eben.“ Und obwohl Roy noch keine Ahnung vom Träumeln hatte, so fühlte er doch, dass hier irgendetwas nicht richtig war. Er konnte es nicht beschreiben. Etwas in seinem Inneren, etwas, das er noch nicht verstand, gab ihm dieses Gefühl. Roy sah, wie Spartakus mit jedem Blitz, den er erhielt, sein Gesicht seltsam verzog und wütend und voller Hast nach vorn stürmte. Schnell lenkte Roy die Kutsche zwischen den Jungen und Spartakus und fing den nächsten Blitz mit der Kutsche ab. Nichts passierte. Die Kutsche vibrierte kurz und wurde dann wieder ruhig. Schössel hatte sich nun ganz hinter Roy’s Rücken versteckt. Noch einmal schoss der Junge einen Blitz von sehr weit oben ab. Doch auch dieser verpuffte in der Wolkenkutsche und erreichte Spartakus nicht.

Der Junge mit dem seltsamen silbernen Mantel kam nun selber wie ein Blitz vom Himmel geschossen und stoppte scharf vor ihnen. Racket fiel vor Schreck nach hinten. Roy stand fest in der Kutsche und spürte, wie der Wind ihm scharf ins Gesicht wehte. Er stand fest und hatte keine Angst, auch wenn der Junge ihn mit stechenden und bösen Augen ansah. „Was fällt dir ein, mein Träumeln zu stören?“ - „Es ist nicht richtig, was du da machst.“ antwortete Roy mutig. „Wer bist du, dass du mir sagst, was richtig ist?“ - „Ich weiß zwar nicht, was du da machst, aber ich sehe, dass es falsch ist. Wozu lässt du diese Menschen so wütend gegeneinander kämpfen?“ - „Es ist ihre Bestimmung, zu kämpfen.“, antwortete der Junge grimmig und fügte scharf hinzu: „Ich frage dich noch einmal: Wer bist du, dass du unsere Regeln brichst und mich beim Träumeln störst?“ Mit diesen Worten holte er aus und wollte schon einen fürchterlichen Blitz aus seiner Kugel abfeuern. Doch als er Schössel sah, die vorsichtig hinter Roy’s Rücken hervorschaute, beherrschte er sich. Roy merkte, dass es ihm sehr schwer fiel. „Du hast Glück, du Wicht, dass Guckifix’s Schoßhündchen bei dir ist, sonst würde ich dir zeigen, was es heißt, mein Träumeln zu stören. Sieh zu, dass sich unsere Wege nicht noch einmal kreuzen.“ Er schwang sich in die Lüfte und verschwand in Richtung Berge.

Racket hatte sich wieder aufgerappelt und stand nun neben Roy. „Was war das denn?“ - „Ich weiß nicht. Er ist verschwunden.“ - „Was hat er gesagt?“ - „Er war sauer, weil ich ihn beim Träumeln gestört habe und er meinte, ich hätte eine wichtige Regel gebrochen.“ - „Ja, ich glaube, das stimmt. Ich habe davon gehört. Man darf sich nie in das Träumeln eines anderen einmischen. Man kann einem Menschen andere Träume schicken, aber man darf sich nie bei einem anderen Träumler einmischen.“ - „Aber sein Träumeln war falsch! Hast du nicht gesehen, wie wütend die Menschen waren?“ - „Ja, habe ich. Aber aus irgendeinem Grunde darf man es nun mal nicht. Wenn Ihr aber selber träumeln könntet, dann hättet Ihr Spartakus einen anderen Traum bringen können.“ - „Wir müssen das Träumeln lernen, Racket. Unbedingt.“ - „Ja, wenn wir ankommen würden eines Tages. Aber ich fürchte fast, Schössel kennt den Weg nicht.“ Schössel, nun wieder mutig, hörte natürlich diese Bemerkung und empörte sich sofort. „Ihr werdet noch früh genug ankommen, ihr Dreikäsehoch. Dann werdet ihr zeigen können, was für Kerle ihr seid.“ Sie schwebte beleidigt ganz nach vorn und die Kutsche setzte sich wieder in Bewegung.

Auf dem Feld unter ihnen war es friedlich und ruhig. Ganz plötzlich waren alle römischen Soldaten und auch Spartakus Mannen verschwunden. Nur eine saftige grüne Wiese war zu sehen, als ob hier nie etwas gewesen wäre. Roy ahnte: Spartakus war aufgewacht. Racket nickte ihm bedeutungsvoll zu. „In ihm habe ich einen guten Freund,“ dachte Roy. Er reichte Racket die Hand und sagte: „Lass von jetzt an dieses „Euch“ und „Ihr“, wir wollen „du“ zueinander sagen.“ Diese hohe Ehre nahm Racket gerne an.

Die Kutsche flog nun weiter einem fernen Ziel entgegen, über endlose Wiesen, über Stock und Stein, über Wälder und über schier uferlose Meere. So lange waren sie unterwegs, dass Roy nun auch zu zweifelte begann, ob Schössel den richtigen Weg kannte. Aber als sie wieder eine dieser wunderschönen Wiesen überflogen, schrie Schössel plötzlich auf. „Dort ist er! Dort unten!“ Roy schaute hinunter und sah nichts außergewöhnliches, nun ja zumindest kein besonderes Gebäude oder etwas in der Art, das die Schule Rapperpotz sein könnte. Auf einer saftigen grünen Wiese graste friedlich ein prächtiger Schimmel. Dieser Schimmel war allerdings außergewöhnlich. In seinem ganzen Leben hatte Roy noch nie ein so schönes Pferd gesehen. Sein wunderschönes weißes Fell glänzte in der Sonne, und seine Mähne schien majestätisch bis in den Himmel zu wehen. Stolz trabte er über das Gras und stoppte, als er die Kutsche sah. Roy und Racket sprangen heraus und folgten Schössel, die bereits aufgeregt vor dem Schimmel stand und mit ihm redete. „Ehrwürdiger Tarkan! Endlich haben wir Euch gefunden.“ - „Ich grüße auch dich, seltsam anmutendes Wölkchen. Sag mir dein Begehren.“ - „Meister Guckifix schickt mich, um Euch diese beiden Schüler zu bringen.“ - „Sind sie es würdig, die Schule Rapperpotz zu besuchen?“ - „Es sind Roy Rapperpotz und sein Freund Racket, die Einlass erbitten.“ Tarkan musterte einen Augenblick die beiden Jungen, dann verschränkte er seine Vorderbeine und öffnete seinen Mund, der seltsamerweise immer größer und größer wurde, bis bequem ein Mensch hindurch passte. Schössel schwebte gleich hinein, die beiden Jungen aber standen noch staunend vor Tarkan. „Kommt schon, ihr Schlafmützen. Tarkan kann nicht ewig seinen Mund aufhalten.“

Roy tat ungläubig einen Schritt auf den Schimmel zu. Er sah in seine feurigen Pferdeaugen, die ihm freundlich zuzwinkerten. Dann fasste er all seinen Mut zusammen und sprang hinein. Racket folgte ihm. Sobald sie in Tarkan verschwunden waren, schloss dieser seinen Mund wieder und das Tor hinter ihnen verschwand. Sie standen inmitten eines Pferdes, doch es war nicht dunkel. Ein sanftes, weiches Licht umgab sie. Aber sonst konnte Roy nichts weiter sehen. Schössel war schon in der Ferne verschwunden. Roy hörte sie kaum noch: „Kommt schon und trödelt nicht so. Wir müssen weiter.“ - „Aber wohin?“ schrie Roy ihr nach. „Was denn? Du weißt immer noch nicht, wohin?“ - „Ich kann nichts sehen.“ Schössel kam zurück und hielt direkt vor Roy. „Oh, ja. Ich weiß schon, warum. Ihr musst an euch selbst glauben und an die Schule Rapperpotz. Ihr müsst daran glauben, dass sie hier ist, nur dann kann es funktionieren. Öffnet eure Herzen.“ Roy legte seine Zweifel ab und sah plötzlich den Schimmer einer Brüstung und hörte ferne Stimmen. Und als er ganz fest daran glaubte, erschien die Schule Rapperpotz in ihrer ganzen Pracht vor ihm, umgeben von einem See, auf dem lustig Wasserrosen tanzten. Ein Brücke schwebte über der Wasseroberfläche und wies ihnen den Weg zur Schule.

„Wohin gehst du, Roy?“ fragte Racket, als er die Brücke betreten wollte. Er konnte noch immer nichts sehen. „Schließe deine Augen und höre auf dein Herz, Racket. Glaube an das Unmögliche.“ Und als er dies tat, hörte auch er die Stimmen vor ihm, und als er die Augen wieder öffnete, sah auch er, was vor ihnen lag: Ein riesiges Schloss mit großen Türmen und breiten Flügeln. Die Mauern bestanden nicht aus gewöhnlichen Steinen, sondern waren aus einem seltsamen gläsernen durchscheinenden Material. Roy konnte bereits von weitem in den Innenhof schauen. Beide Jungen liefen voller Staunen über die Brücke, denn in dem See war kein Wasser, sondern glitzernder Zauberstaub, der funkelte und leuchtete. Roy meinte zu hören, wie die Wasserrosen auf der Oberfläche ständig etwas murmelten. « Rapperpotz. Roy Rapperpotz! Sieh nur. Da kommt er endlich. Roy Rapperpotz. Er ist da.“

Jetzt verstand Roy, warum diese Schule vor dem Regen sicher war. Tarkan war ihr Beschützer, ihr wachsames Auge. Er war pfeilschnell, schneller als der Wind und schneller als jeder Regen. Und da sich die Schule Rapperpotz in seinem Inneren befand, war auch sie sicher, so dachte Roy damals zumindest.

Die beiden Jungen standen nun vor dem Tor, das sich öffnete und krachend hinter ihnen zufiel. Schössel hatte sich wieder klein gemacht und war in Roy’s rechter Hosentasche verschwunden. Der Hof des Schlosses war mit hektisch umherlaufenden Kindern übersät. Überall wurde laut geredet und getuschelt. Alle schienen sehr beschäftigt zu sein und keiner nahm so richtig Notiz von den beiden Neuankömmlingen. Roy merkte schnell, dass etwas nicht stimmte. Irgendetwas musste passiert sein. Mitten unter den wild diskutierenden Kindern stand eine Frau mit grauen wallendem Haar. Roy erkannte sie sofort. Es war Morella, die die beiden nun bemerkte und begrüßte. „Komm ruhig näher Roy. Wir haben schon auf dich gewartet, wenn auch nicht gerade heute.“ Dann richtete sie sich an alle Schüler im Hof: „Ich freue mich, euch einen ganz besonderen Schüler vorstellen zu dürfen. Komm her Roy!” Ein Raunen ging durch die Reihen der Schüler. „Ja, er ist es wirklich. Siehst du die Strähne in seinen Haaren? Es ist Roy. Roy Rapperpotz.“ Alle Kinder drehten sich nach Roy um und einige winkten ihm freundlich zu. Aber er sah nicht nur fröhliche Gesichter. Ein paar von ihnen schauten sehr dunkel drein. Unter ihnen erkannte Roy sofort den Jungen von heute Morgen. Morella sah auch in diese Richtung und sagte scharf:. „Greg Haport. Wir werden uns morgen weiter unterhalten. Um 8 Uhr in meinem Zimmer.“ Dann wendete sie sich wieder an die beiden Jungen: „Es tut mir leid Roy, aber ich muss mich jetzt um andere Dinge kümmern. Irgendjemand hat einen falschen Traum an Spartakus geschickt, einen sehr beunruhigenden falschen Traum. Irgendjemand - ich kann mir schon denken, wer es war - hat falsch geträumelt, obwohl es verboten ist. Ich werde jetzt selber den Schaden beheben müssen.“ Dann winkte sie einem Mädchen zu, das nicht weit entfernt von ihnen stand und Roy schon die ganze Zeit seltsam anlächelte. „Romi wird euch zeigen, wo ihr heute nacht schlafen werdet und morgen lernt ihr die Schule Rapperpotz kennen.“ Mit diesen Worten warf sie sich einen goldenen Mantel über, murmelte ein paar unverständliche Worte verschwand. Als Roy noch einmal zur Seite blickte, sah er, wie Greg ihn mit grimmigem Blick musterte, sich dann umdrehte und mit zwei anderen Jungen ins Haus ging. Romi zog Roy am Ärmel: „Lass dich bloß nicht mit dem ein, Roy!“ - „Was?“  - „Greg Haport. Lass dich ja nicht mit dem ein. Wie ich hörte, hat er die Schule Rapperpotz schon oft in Schwierigkeiten gebracht.“ Dann lächelte sie und zog Roy noch stärker am Arm: „Ich freue mich so, dass du wieder da bist. Kennst du mich denn noch?“  Roy kannte sie zwar nicht, doch spürte er sofort eine enge Vertrautheit, die er nicht erklären konnte, die ihm jedoch sehr gefiel. Deshalb antwortete er ihr freundlich. „Ja, irgendwie schon. Es ist nur...“ Racket half ihm: „Er kann sich an nichts erinnern, Romi. Lass ihm noch ein bisschen Zeit.“

Romi führte die beiden ins Schlossinnere und zeigte ihnen ihre Zimmer. „Hier werden wir schlafen. Ich hoffe, für längere Zeit. Wir müssen gut aufpassen in den nächsten drei Tagen. Am vierten Tag ist die Aufnahmeprüfung und wie ich hörte, ist die nicht leicht hier in Rapperpotz.“ - „Erinnere mich bloß nicht daran!“ stöhnte Racket. Roy war zu müde, um sich genauer im Zimmer umzusehen. Sobald er sich seine Zähne geputzt und sich gewaschen hatte, fiel er ins Bett, zog sich seine Decke weit über den Kopf und schlief sofort ein.


Roy und die Schule Rapperpotz

Als Roy am nächsten Morgen erwachte, musste er sich zunächst umschauen, wo er überhaupt war. Er hatte so tief und fest geschlafen, dass er es wirklich nicht mehr wusste. Er lag in einem Bett aus purpurnem Samt. Als er die Bettdecke zur Seite schlagen wollte, gab sie eigenartige Töne von sich. „Hm, jetzt schon aufstehen, Roy Rapperpotz? Vielleicht noch ein halbes Stündchen?“ Und da wusste Roy, wo er war. Er war in der Schule Rapperpotz. Und schnell kam die Erinnerung an den gestrigen Tag zurück. Racket musste schon unterwegs sein, denn sein Bett war leer. Aufgeregt stand Roy auf, wusch sich in Windeseile und wollte sich gerade anziehen, als die Tür aufflog. „Roy, schnell, du musst mitkommen.“ Romi stürzte in das Zimmer, drehte sich jedoch sofort verlegen zur Seite. „Oh, entschuldige. Ich dachte, du wärst schon angezogen.“  - „Schon gut. Ich bin gleich fertig.“ Hastig zog sich Roy an und folgte Romi nach draußen, wo bereits mehrere Kinder wie Hühner aufgeregt hin- und herliefen. Einige von ihnen schrieen dabei wild. Morella war zurückgekehrt und irrte nun völlig wirr zwischen all den Kindern im Hof herum. In ihren Haaren sah Roy überall schwarze Strähnen, solche, wie auch er eine hatte, und ihr Mantel war mit tiefen schwarzen Löchern übersät. Roy ahnte schon, was geschehen war. Morella war zu Spartakus geflogen, um seinen Traum zu berichtigen. Sie war so vertieft in ihre Arbeit, dass sie nicht bemerkte, wie der Regen langsam und schleichend immer näher kam. Eigentlich ist sie ein Meister des Träumelns und eine der Klügsten und Weisesten im Ältestenrat Traumanias. Aber gestern ärgerte sie sich dermaßen über diesen Greg Haport, dass sie alle Vorsicht und Weisheit vergaß. Als sie den Regen sah, war es fast schon zu spät. Mit letzter Kraft schleppte sie sich hierher zurück. Niemand konnte ihr helfen, bis von der Seite ein knochiger Mann herbeisprang und sie stützte. „Mein Gott, Morella! Wie konntest du nur so unvorsichtig sein? Wir werden sie behandeln müssen!“, rief er zwei anderen Männern zu, die aus dem Keller gerannt kamen. Zu dritt schafften sie sie in den Keller des Schlosses. „Wohin bringen sie sie?“ fragte Roy Romi. „In dem Keller werden alle behandelt, die vom Regen getroffen wurden.“ - „In dem Keller? Aber wie?“ - „Ich weiß nicht. Ich war noch nie dort unten.“

Aus dem Obergeschoss erklang eine Stimme. „Alle Schüler sofort in die Klassenzimmer. Der Unterricht beginnt in zehn Minuten. Alle Erstklässler melden sich bei Mrs. Wedding im ersten Stock.“

Erst jetzt fand Roy Zeit, sich umzublicken. Die weiten Flügel zu beiden Seiten des Schlosses waren ihm gestern schon aufgefallen. Sie umschlossen einen großen Innenhof. Die Türme konnte Roy nur sehr schlecht erkennen, so hoch waren sie. Es schien fast, als ob sie überhaupt kein Ende hätten. Die Fenster hatten etwas Magisches an sich. Sobald er hineinschaute, sah er zwar ein Spiegelbild, doch es war nicht seines. Auch wenn es seinen Bewegungen folgte, so sah er doch eindeutig einen ganz anderen Jungen. Roy konnte sich nicht erklären, wer dieser Junge war und warum er ständig seinen Bewegungen folgte. Doch jetzt hatte er keine Zeit, darüber nachzudenken. Er ging mit den anderen Kindern in den ersten Stock, wo sie bereits von Mrs. Wedding erwartet wurden. Mrs. Wedding war eine relativ junge, hübsche und sehr nette Frau. Aber eigenartigerweise hatte auch sie schon graue Haare, wie scheinbar alle erwachsenen Menschen hier. Sie begrüßte jedes Kind mit einem freundlichen Händedruck und ein paar persönlichen Worten. Als Roy an der Reihe war, nahm sie sich besonders viel Zeit. „Sieh an. Da ist er ja. Der berühmte Roy Rapperpotz. Ich hoffe, es wird dir bei uns gefallen.“ - „Ja. Ich denke schon.“ erwiderte Roy verlegen. „Gut. So setze dich.“ Roy setzte sich neben Racket auf einen der Stühle, welche im Kreis angeordnet waren. Ein paar der Kinder hatte er draußen schon gesehen. Da war der kleine schüchterne Rothaarige namens Sem, der sich kaum traute, den Mund aufzumachen. Und auch einer der beiden Jungen, die mit Greg Haport zusammen waren - sein Name war Ed Fischer - betrat jetzt in frechem Schritt das Zimmer. Als alle Schüler sich gesetzt hatten, schloss Mrs. Wedding die Tür und nahm auf einem Stuhl in der Mitte Platz. Sie begann den Unterricht: „Wisst ihr, warum ihr hier seid, Kinder?“ - „Wir wollen lernen, den Menschen ihre Träume zu bringen.“ antwortete ein Mädchen. „Ja, richtig, Marie. Und weißt du auch, wie wir das nennen?“ Noch bevor Marie antworten konnte, polterte es aus Racket heraus: „Träumeln, wir nennen es Träumeln.“ - „Ja, genau, Racket. Träumeln ist das richtige Wort dafür. Und wie träumelt man richtig, Racket? Kannst du uns das sagen?“ - „Ja...eh.., ich...“ verlegen schaute er zu Boden. „Nein. Ich weiß es nicht.“ - „Weiß es jemand?“ fragte Mrs. Wedding in die Runde. Niemand meldete sich. „Roy. Kannst du uns sagen, wie man träumelt?“ Was sollte Roy ihr antworten? Er war den ersten Tag in dieser Schule und den dritten Tag in diesem merkwürdigen Land. Woher sollte er wissen, wie man träumelt? Aber er hatte es ja schon einmal gesehen! So antwortete er mutig: „Man fliegt mit einem Zaubermantel durch die Luft und zerstreut Traumsand und feuert aus einer Kugel Blitze ab.“ Mrs. Wedding sah ihn erstaunt und erschrocken an. „Woher weißt du das, Roy? So werden nur verbotene Träume geträumelt.“ Roy sah, wie Ed Fischer ihn durchdringend anstarrte und dabei drohende Worte mit den Lippen formte. „Ich habe davon gehört.“ log Roy, obwohl ihm dabei sehr unbehaglich zumute war. Aber er wollte nicht schon am ersten Tag Ärger bekommen. „Vergiss ganz schnell, was du da gehört hast, Roy. So etwas ist streng verboten hier in Rapperpotz.“

Dann fuhr sie wieder mit freundlichem Ton fort: „Aber es stimmt, dass man zum Träumeln einen Traummantel und eine Kugel, eine Traumkugel, benötigt. Weiß jemand, wie diese Kugel heißt?“ Fragend schaute sie zu Ed Fischer. „Ed?“ - „Das ist ein Konkel.“ - „Ja, richtig. Und was macht man damit?“ - „Ich weiß nicht.“ antwortete Ed in einer Art, die Roy merke ließ, dass Ed schon ziemlich gut Bescheid wusste, was das Träumeln anging, mehr als er zuzugeben bereit war. Da es sonst jedoch niemand wusste, erklärte es Mrs. Wedding selbst: „Die Kugel, mit der die Träume zu den Menschen gebracht werden, ist der Konkel. Ihr werdet später lernen, wie man ihn benutzt. Aber etwas fehlt uns noch. Wir haben den Traummantel, der uns zu den Menschen bringt, wir haben den Traumsand und den Konkel, der die Träume weiterschickt. Was fehlt uns noch? Etwas, das all diese Dinge verbindet. Wer weiß es?“ Sie schaute in die Runde. „Sem? Weißt du es?“ - „Ich... ich.... nein.“ sagte er schüchtern und blickte zu Boden. „Das ist nicht schlimm, Sem. Du bist hier, um es zu lernen. Es sind die Traumsprüche in unserer eigenen Sprache, in hunduisch. Es ist die Sprache, die alle Dinge miteinander verbindet. Erst sie bringt die Menschen in unser Land, wo sie träumen. Die Traumsprüche verbinden die Träume mit dem Konkel und schickt sie zu den Menschen.“

Aufmerksam lauschten alle Kinder Mrs. Wedding. „Hunduisch wird das erste sein, das ihr lernen werdet. Wir werden gleich morgen damit anfangen. Doch jetzt werde ich euch die Schule zeigen.“ Sie murmelte etwas, und auf einmal begann der Boden zusammen mit der Decke kurz nach rechts und dann nach links zu rucken, so dass sich Roy erschrocken umblickte. Im selben Moment bewegte sich dieses seltsame Zimmer aber auch schon langsam nach oben. Roy sah wie die Wände sich veränderten und dabei nach unten zu wandern schienen, während das gesamte Zimmer mit all den Schülern darin nach oben durch das gesamte Haus gleitete und plötzlich über der Schule Rapperpotz schwebte. Und obwohl sie nun ganz oben waren, konnte Roy noch immer nicht die Türme des Schlosses sehen, die wahrhaftig irgendwo im Himmel zu stehen schienen.

„So, Kinder. Von hier aus seht ihr die ganze Schule. Sie wurde von einem der größten Meister unseres Landes erbaut, von Meister Sotalex.“ Roy horchte auf. Dies war der Name des Mannes, den Roy suchen sollte. Wie Guckifix ihm prophezeite, wird Sotalex ihm den heiligen Somnel geben können. Und dieser Sotalex hatte Rapperpotz erbaut? Roy nahm sich vor, mehr darüber herauszufinden. Doch erst hörte er weiter aufmerksam den Worten Mrs. Weddings zu.

„Hinter der Schule befindet sich ein großes Träumelfeld. Dort üben sonst vor allem die jüngeren Schüler das Träumeln. Aber unser Fluglehrer ist gerade in Traumania unterwegs.“ Trotzdem blickte Mrs Wedding und all die Kinder nach hinten auf das Feld, das etwa so groß war wie ein Fußballfeld. Doch es war nicht mit grünen Rasen bedeckt, sondern ganz und gar gelb, wie ein riesig großer Sandkasten. „Ah, wie ich sehe, ist Mr. Finley gerade mit seiner Klasse dort. Naja. Viel scheinen sie bei ihm ja nicht gelernt zu haben.“ Roy sah mehrere Gestalten in der Luft hin- und herfliegen. Einige stießen zusammen und krachten auf den Boden. Doch kurz darauf flogen sie schon wieder durch die Luft. Anscheinend war nichts Ernsthaftes passiert. „So, Kinder, jetzt werden wir noch durch einige Klassenzimmer gehen.“ Schon während sie dies aussprach, bewegte sich das Zimmer nach unten, stoppte und gab den Blick in einen der anderen Räume frei. „Dies ist die Klasse, in der der richtige Umgang mit Traumsand gelehrt wird und hier hinten...“ Sie drehte sich um und alle Schüler taten es ihr nach. „Hier hinten seht ihr die Klasse für Tierträume, daneben die für Kinderträume und direkt darunter ist die für Erwachsenenträume, aber dorthin werdet ihr erst viel später kommen.“

So zogen sie durchs ganze Haus. Mrs. Wedding zeigte ihnen noch die Zimmer für Träume der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, sie zeigte ihnen Klassenräume, in denen hunduisch gelehrt wurde und wie man den Konkel und den Zaubermantel richtig benutzt, sie zeigte ihnen die Klasse für Traumgeschichte und für die Geschichte der Menschheit, was ein besonders schweres und wichtiges Fach sei, wie sie betonte. Roy konnte sich das alles kaum merken. Diese Schule musste unzählige Klassenzimmer haben! Roy zweifelte schon daran, dies jemals alles zu erlernen. Aber dann kamen sie schließlich doch im letzten Zimmer an und Mrs. Wedding verkündete feierlich: „In diesem Zimmer, meine Lieben, wird übermorgen die Aufnahmeprüfung stattfinden.“ Ein Raunen ging durch die Schar der Schüler. Racket wurde käseweiß. „Übermorgen schon? Oh Gott. Ich werde bestimmt wieder durchfallen.“ Das Zimmer war winzig klein und hatte keine Fenster. Roy musste sich anstrengen, um etwas zu erkennen. An der hinteren Wand hing ein großer Spiegel, sonst konnte er nichts weiter sehen, keine Stühle, keine Tische, gar nichts. Der Raum war völlig leer. Seltsam. Das konnte doch unmöglich ein Klassenzimmer sein, oder? Was sollte dies für eine Aufnahmeprüfung sein? Doch noch bevor er sich weiter den Kopf darüber zerbrechen konnte, bewegten sie sich schon wieder und im Nu war das Zimmer wieder an seinem alten Platz, wo die Reise durch die Schule Rapperpotz begann. „So, jetzt kennt ihr die Schule Rapperpotz. Ich hoffe, sie wird euch gefallen, vorausgesetzt, ihr besteht die Aufnahmeprüfung übermorgen.“ Racket fing schon wieder an zu schnauben. Er konnte das Wort „Aufnahmeprüfung“ schon nicht mehr hören. „Habt ihr noch irgendwelche Fragen?“ Mrs. Wedding schaute in die Runde. Roy hatte heute so viel gesehen, dass ihm ganz schwindlig zumute war. Obwohl er natürlich tausend Fragen hatte, wusste er nun gar nicht so recht, was er eigentlich fragen sollte. Doch noch bevor er seine Gedanken ordnen konnte, sprang Marie neben ihm auf und polterte los. „Warum sind in allen Fenstern so seltsame Gestalten, die sich bewegen, wenn man daran vorbei geht?“ Roy horchte auf. Auch Marie hatte diese merkwürdigen Bilder in den Fenstern bemerkt! Also ging es nicht nur ihm so. „Ich habe schon auf diese Frage gewartet, Marie. Nein, das sind keine seltsamen Gestalten. Das seid ihr. Habt ihr vergessen, Kinder? Ihr sind im Land der Träume, und in jedem Traum kommt der wahre Mensch zum Vorschein, offenbart sich der eigene Charakter und das wahre Wesen eines Menschen. Denjenigen, den ihr in diesen Fenstern seht, das seid ihr selbst, ihr seht euer wahres Ich.“  -  „Das bin ich in diesem Fenster?“ fragte Marie erstaunt. „Aber sie sieht mir doch gar nicht ähnlich.“  - „Das ist erstaunlich, nicht wahr?“ Mrs. Wedding lächelte Marie an. „Sie spiegelt ja auch nicht dein Äußeres, sondern dein Inneres wider. Verstehst du?“ - „Aber die Spiegelbilder der anderen sehen doch alle ganz normal aus?“ -  „Ja, das stimmt. Für dich sehen sie normal aus, weil du sie nicht sehen kannst, Marie. Da jeder seinen eigenen Traum hat, kann auch nur jeder sein eigenes Spiegelbild sehen und nicht das der anderen.“ Marie setzte sich etwas verdutzt wieder hin. „Ich soll das sein? Mein Inneres? Dieses häßliche Ding?“ - „Schau sie dir ganz genau an, Marie. Du wirst überrascht sein, was du sehen wirst.“ Roy hörte fasziniert zu. „So, liebe Kinder. Morgen werdet ihr den ersten Träumelspruch lernen. Für heute ist es genug. Also los, hurtig hinaus.“ Mrs. Wedding stand auf und wollte das Zimmer verlassen. Als sie schon fast aus der Tür war, hatte Roy doch noch eine Frage: „Woher kommt der Regen, Mrs. Wedding?“ Roy sah ihr nettes Gesicht plötzlich sehr ernst werden. Sie überlegte, was sie erwidern sollte. „Niemand in Traumania weiß, woher der Regen eigentlich kommt, Roy. Aber ich hoffe - wir alle hoffen – dass du uns eines Tages die Antwort darauf geben wirst.“ Sie drehte sich um und verließ den Raum. Roy, Racket und Romi gingen zurück in ihr Zimmer, wo sie noch lange über diese seltsame Schule sprachen, über die vielen Unterrichtsfächer und Klassen, in denen sie das Träumeln lernen würden und über dieses kleine Zimmer, in dem ihre Aufnahmeprüfung stattfinden sollte, wobei Racket wieder schlecht wurde. Roy war mit seinen Gedanken wieder ganz woanders. Was hatte Mrs. Wedding ihm gesagt? Er wird wissen, woher dieser furchtbare Regen kam? Er? Ausgerechnet er? Roy Rapperpotz? Aber woher sollte gerade er das wissen? Spät löschten sie das Licht und legten sich schlafen. Roy zog seine Decke tief über den Kopf.


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