KAPITEL
Von dem Spiegel und den Scherben
Ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen
Der Blumengarten bei der Frau, die zaubern konnte
Prinz und Prinzessin
Das kleine Räubermädchen
Die Lappin und die Finnin
Von dem Schloss der Schneekönigin, und was sich später darin zutrug

Prinz und Prinzessin
Die Schneekönigin


Gerda musste wieder ausruhen. Da hüpfte dort auf dem Schnee, der Stelle, wo sie saß, gerade gegenüber, eine große Krähe; die hatte lange gesessen, sie betrachtet und mit dem Kopfe gewackelt. Nun sagte sie:

"Krah! Krah! - Gu'Tag! Gu'Tag!" Besser konnte sie es nicht herausbringen, aber sie meinte es gut mit dem kleinen Mädchen und fragte, wohin sie so allein in die weite Welt hinausginge. Das Wort allein verstand Gerda sehr wohl und fühlte recht, wie viel darin lag; und sie erzählte der Krähe ihr ganzes Leben und Schicksal und fragte, ob sie Kay nicht gesehen habe.

Und die Krähe nickte ganz bedächtig und sagte: "Das könnte sein! Das könnte sein!"

"Wie? Glaubst du?“ rief das kleine Mädchen und hatte fast die Krähe totgedrückt, so küsste sie diese.

"Vernünftig, vernünftig!" sagte die Krähe. "Ich glaube, ich weiß; - ich glaube, es kann sein; der kleine Kay - aber nun hat er dich sicher über der Prinzessin vergessen!"

"Wohnt er bei einer Prinzessin?" fragte Gerda.

"Ja, höre!" sagte die Krähe. "Aber es fällt mir so schwer, deine Sprache zu sprechen. Verstehst du die Krähensprache? Dann will ich besser erzählen."

"Nein, die habe ich nicht gelernt", sagte Gerda; "aber die Großmutter verstand sie, und auch sprechen konnte sie diese Sprache. Hätte ich sie nur gelernt!"

"Tut gar nichts!" sagte die Krähe. "Ich werde erzählen, so gut ich kann; aber schlecht wird es gehen." Dann erzählte sie, was sie wusste.

"In dem Königreich, in dem wir jetzt sitzen, wohnt eine Prinzessin, die ist ganz unbändig klug; aber sie hat auch alle Zeitungen, die es in der Welt gibt, gelesen und wieder vergessen, so klug ist sie. Neulich saß sie auf dem Thron, und das ist doch nicht so angenehm, wie man sagt; da fing sie an, ein Lied zu singen, und das war dieses: ,Weshalb sollt' ich mich nicht verheiraten?' Höre, das ist etwas daran", sagte die Krähe, "und so wollte sie sich verheiraten. Aber sie wollte einen Mann haben, der zu antworten verstehe, wenn man mit ihm spreche, einen, der nicht bloß dastehe und vornehm aussehe, denn das sei zu langweilig. Nun ließ sie alle Hofdamen zusammentrommeln, und als diese hörten, was sie wollte, wurden sie sehr vergnügt. Du kannst glauben, dass jedes Wort wahr ist", fügt die Krähe hinzu. "Ich habe eine zahme Geliebte, die geht frei im Schlosse umher, und die hat mir alles erzählt."

Die Geliebte war natürlich auch eine Krähe. Denn eine Krähe sucht die andere, und es bleibt immer eine Krähe.

"Die Zeitungen kamen sogleich mit einem Rand von Herzen und der Prinzessin Namenszug heraus. Man konnte darin lesen, dass es einem jeden jungen Mann, der gut aussehe, freistehe, auf das Schloss zu kommen und mit der Prinzessin zu sprechen; und derjenige, welcher so spreche, dass man hören könne, er sei dort zu Hause, und der am besten spreche, den wolle die Prinzessin zum Manne nehmen. - Ja, ja", sprach die Krähe, "du kannst es mir glauben, es ist so gewiss wahr, wie ich hier sitze. Junge Männer strömten herzu, es war ein Gedränge und ein Laufen: aber es glückte weder am ersten, noch am zweiten Tag. Sie konnten alle gut sprechen, wenn sie auf der Straße waren, aber wenn sie in das Schlosstor traten und die Gardisten in Silber sahen und die Treppen hinauf die Lakaien in Gold und die großen erleuchteten Säle, dann wurden sie verwirrt. Und standen sie gar vor dem Thron, wo die Prinzessin saß, dann wussten sie nichts zu sagen, als das letzte Wort, das sie gesprochen hatte; und das noch einmal zu hören, dazu hatte sie keine Lust. Es war, als ob die Leute drinnen Schnupftabak auf den Magen bekommen hätten und in den Schlaf gefallen wären, bis sie wieder auf die Straße kamen, dann erst konnten sie wieder sprechen. Da stand eine Reihe vom Stadttor an bis zum Schloss. - Ich war selbst drinnen, um es zu sehen!" sagte die Krähe! "Sie wurden hungrig und durstig, aber im Schloss erhielten sie nicht einmal ein Glas Wasser. Zwar hatten einige der Klügsten Butterbrot mitgenommen, aber sie teilten nicht mit ihrem Nachbarn; sie dachten: Lass ihn hungrig aussehen, dann nimmt ihn die Prinzessin nicht!"

"Aber Kay' der kleine Kay!" fragte Gerda. "Warum kam der? War er unter der Menge?"

"Warte, warte! Jetzt sind wir bei ihm! Es war am dritten Tag, da kam eine kleine Person, ohne Pferd und Wagen, fröhlich gerade auf das Schloss zu marschiert; seine Augen glänzten wie deine, er hatte schönes langes Haar, aber sonst ärmliche Kleider."

"Das war Kay!" jubelte Gerda. "Oh, dann habe ich ihn gefunden!" und sie klatschte in die Hände. "Er hatte ein kleines Ränzel auf dem Rücken", sagte die Krähe.

"Nein, das war sicher sein Schlitten", sagte Gerda, "denn mit dem Schlitten ging er fort!"

"Das kann wohl sein", sagte die Krähe, "ich sah nicht so genau danach! Aber das weiß ich von meiner zahmen Geliebten, dass, als er in das Schlosstor kam und die Leibgardisten in Silber sah und die Treppe hinauf die Lakaien in Gold, er nicht im mindesten verlegen wurde. Er nickte und sagte zu ihnen: ,Das muss langweilig sein, auf der Treppe zu stehen; ich gehe lieber hinein!' Da glänzten die Säle von Lichtern, Geheimräte und Exzellenzen gingen mit entblößten Füßen und trugen Goldgefäße: Man konnte wohl andächtig werden! Seine Stiefel knarrten gewaltig laut, aber ihm wurde doch nicht bange."

"Das ist ganz gewiss Kay!" sagte Gerda. "Ich weiß, er hat neue Stiefel an; ich habe sie in der Großmutter Stube knarren hören."

"Ja freilich knarrten sie!" sagte die Krähe. "Und frischen Muts ging er gerade zur Prinzessin hinein, die auf einer großen Perle saß, die so groß wie ein Spinnrad war, und alle Hofdamen mit ihren Jungfern und den Jungfern der Jungfern' und alle Kavaliere mit ihren Dienern und den Dienern der Diener, die wieder einen Burschen hielten, standen ringsherum aufgestellt, und je näher sie der Tür standen, desto stolzer sahen sie aus. Des Dieners Dieners Burschen, der immer in Pantoffeln geht, darf man kaum anzusehen wagen, - so stolz steht er in der Tür!"

"Das muss greulich sein!" sagte die kleine Gerda. "Und Kay hat doch die Prinzessin erhalten?"

"Wäre ich nicht eine Krähe gewesen, so hätte ich sie genommen, selbst dessen' ungeachtet, dass ich verlobt bin. Er soll ebenso gut gesprochen haben wie ich, wenn ich die Krähensprache spreche: Das habe ich von meiner zahmen Geliebten gehört. Er war fröhlich und niedlich. Er war nicht gekommen zum Freien, sondern nur, um der Prinzessin Klugheit zu hören; und die fand er gut und sie fand ihn wieder gut."

"Ja sicher, das war Kay!" sagte Gerda. "Er war so klug: Er konnte im Kopfe mit Brüchen rechnen. - Oh, willst du mich nicht auf dem Schloss einführen?"

"Ja, das ist leicht gesagt!" antwortete die Krähe. "Aber wie machen wir das? Ich werde es mit meiner zahmen Geliebten besprechen, sie kann uns wohl Rat erteilen; denn das muss ich dir sagen: So ein kleines Mädchen' wie du bist, bekommt nie die Erlaubnis, hineinzukommen."

"Ja, die erhalte ich!" sagte Gerda. "Wenn Kay hört, dass ich da bin, kommt er gleich heraus und holt mich."

"Erwarte mich dort am Gitter!" sagte die Krähe, wackelte mit dem Kopfe und flog davon.

Erst als es spät am Abend war, kehrte die Krähe wieder zurück. Krah, krah!" sagte sie. "Ich soll dich vielmals von ihr grüßen, und hier ist ein kleines Brot für dich. Sie nahm es aus der Küche, dort ist Brot genug, und du bist gewiss hungrig. - Es ist nicht möglich, dass du in das Schloss hineinkommen kannst: Du bist ja barfuss. Die Gardisten in Silber und die Lakaien in Gold würden es nicht erlauben. Aber weine nicht, du sollst schon hinaufkommen. Meine Geliebte kennt eine schmale Hintertreppe, die zum Schlafgemach führt, und sie weiß, wie sie den Schlüssel erhalten kann."

Sie gingen in den Garten hinein, in die große Allee, wo ein Blatt nach dem andern abfiel. Und als auf dem Schloss die Lichter ausgelöscht wurden, das eine nach dem andern, führte die Krähe die kleine Gerda zu einer Hintertür, die nur angelehnt war.

Oh, wie Gerdas Herz vor Angst und Sehnsucht pochte! Es war, als ob sie etwas Böses tun wollte, und sie wollte ja doch nur wissen, ob es der kleine Kay sei. Ja, er musste es sein. Sie gedachte so lebendig seiner klugen Augen, seines langes Haares; sie konnte sehen, wie er lächelte wie damals, als sie daheim unter den Rosen saßen. Er würde sicher froh sein, sie zu erblicken, zu hören, welchen langen Weg sie um seinetwillen zurückgelegt, zu wissen, wie betrübt sie alle daheim gewesen seien, als er nicht wiederkam. Oh, das war eine Furcht und eine Freude!

Nun waren sie auf der Treppe, da brannte eine kleine Lampe auf dem Schrank. Mitten auf dem Fußboden stand die zahme Krähe und wendete den Kopf nach allen Seiten und betrachtete Gerda, die sich verneigte, wie die Großmutter sie gelehrt hatte.

"Mein Verlobter hat mir so viel Gutes von Ihnen gesagt, mein kleines Fräulein", sagte die zahme Krähe. "Ihr Lebenslauf, wie man es nennt, ist auch sehr rührend. Wollen Sie die Lampe nehmen, dann werde ich vorangehen. Wir gehen hier den geraden Weg' denn da begegnen wir niemand."

"Es ist mir, als käme jemand hinter uns her", sagte Gerda, und es sauste an ihr vorbei. Es war wie Schatten an der Wand: Pferde mit fliegenden Mähnen und dünnen Beinen, Jägerburschen, Herren und Damen zu Pferde.

"Das sind nur Träume", sagte die Krähe, "die kommen und holen der hohen Herrschaften Gedanken zur Jagd ab. Das ist recht gut, dann können Sie sie besser im Bett betrachten. Aber ich hoffe, wenn Sie zu Ehren und Würden gelangen, werden Sie ein dankbares Herz zeigen."

"Das versteht sich von selbst", sagte die Krähe vom Walde.

Nun kamen sie in den ersten Saal, der war aus rosenrotem Atlas mit künstlichen Blumen an den Wänden hinauf. Hier sausten an ihnen schon die Träume vorbei, aber sie ritten so schnell, dass Gerda die hohen Herrschaften nicht zu sehen bekam. Ein Saal war immer prächtiger als der andere; ja, man konnte wohl verdutzt werden. Nun waren sie im Schlafgemach. Hier glich die Decke einer großen Palme mit Blättern von kostbarem Glas, und mitten auf dem Fußboden hingen an einem dicken Stengel aus Gold zwei Betten, von denen jedes wie eine Lilie aussah. Die eine war weiß, in der lag die Prinzessin; die andere war rot, und in dieser sollte Gerda den kleinen Kay suchen. Sie bog eins der roten Blätter zur Seite, da sah sie einen braunen Nacken. - Oh, das war Kay! - Sie rief laut seinen Namen, hielt die Lampe nach ihm hin - die Träume sausten zu Pferde wieder in die Stube hinein - er erwachte, drehte den Kopf um, und es war nicht der kleine Kay.

Der Prinz glich ihm nur im Nacken, aber jung und hübsch war er. Und aus dem weißen Lilienblatt blinzelte die Prinzessin hervor und fragte, wer da wäre. Da weinte die kleine Gerda und erzählte ihre ganze Geschichte und alles, was die Krähen für sie getan hatten.

"Du armes Kind"!" sagten der Prinz und die Prinzessin, und sie lobten die Krähen und sagten, dass sie nicht böse auf sie seien, aber sie sollten es ja nicht öfter tun; übrigens sollten sie eine Belohnung erhalten.

"Wollt ihr frei fliegen?" fragte die Prinzessin. "Oder wollt ihr feste Anstellung als Hofkrähen haben mit allem, was in der Küche abfällt?"

Und beide Krähen verneigten sich und baten um feste Anstellung, denn sie gedachten des Alters und sagten: "Es wäre schön, etwas für die alten Tage zu haben", wie sie es nannten.

Und der Prinz stand aus seinem Bett auf und ließ Gerda darin schlafen, mehr konnte er nicht tun. Sie faltete ihre kleinen Hände und dachte: "Wie gut sind doch die Menschen und die Tiere!" - Dann schloss sie ihre Augen und schlief sanft. Alle Träume kamen wieder hereingeflogen, sie sahen wie Engel Gottes aus und zogen einen kleinen Schlitten, nauf dem Kay saß und nickte; aber das Ganze war nur ein Traum, und deshalb war es auch wieder fort, sobald sie erwachte.

Am folgenden Tage wurde sie vom Kopf bis zu den Füßen in Seide und Samt gekleidet. Es wurde ihr angeboten, auf dem Schlosse zu bleiben und gute Tage zu genießen, aber sie bat nur um einen kleinen Wagen mit einem Pferd und um ein Paar Stiefelchen, dann wollte sie wieder in die weite Welt hinausfahren und Kay suchen.

Und sie erhielt sowohl Stiefelchen als auch Muff und wurde niedlich gekleidet. Als sie fort wollte, hielt vor der Tür eine neue Kutsche aus reinem Gold. Des Prinzen und der Prinzessin Wappen glänzte daran wie ein Stern, Kutscher, Diener und Vorreiter - denn es waren auch Vorreiter da - saßen mit Goldkronen auf dem Kopf zu Pferde. Der Prinz und die Prinzessin halfen ihr selbst in den Wagen und wünschten ihr alles Glück. Die Waldkrähe, welche nun verheiratet war, begleitete sie die ersten drei Meilen; sie saß ihr zur Seite, denn sie konnte nicht vertragen, rückwärts zu fahren. Die andere Krähe stand in der Tür und schlug mit den Flügeln; sie kam nicht mit, denn sie litt an Kopfschmerzen, seitdem sie eine feste Anstellung und zu viel zu essen erhalten hatte. Inwendig war die Kutsche mit Zuckerbrezeln gefüttert, und im Sitze waren Früchte und Pfeffernüsse.

"Lebe wohl! Lebe wohl!" rief der Prinz und die Prinzessin, und die kleine Gerda weinte, und die Krähe weinte. - So ging es die ersten drei Meilen, da sagte auch die Krähe Lebewohl' und das war der schwerste Abschied. Sie flog auf einen Baum und schlug mit ihren schwarzen Flügeln, solange sie den Wagen, der wie der helle Sonnenschein glänzte, erblicken konnte.