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Der letzte Weg

von Marion Wolf aus "Märchen im Spiegel der Zeit"

 


 

Am Ufer eines spiegelblanken Sees stand ein Palast aus weißem Marmor. In seinen Zimmern lagen bunte Teppiche und im Hof schlängelten sich helle Kieswege durch einen zauberhaften Blütengarten. Inmitten dieser Pracht lud das Plätschern eines Springbrunnens dazu ein, an seiner Brüstung sinnierend zu verweilen oder ein Schwätzchen zu halten.

 

In jenem Palast lebte ein Greis mit Kindern und Kindeskindern. Als seine Zeit gekommen war, rief er die Seinen zu sich:

„Sehet, all meine Jahre habe ich an diesem See verbracht:
Von seinen Fischen habe ich gegessen und wurde satt.

In seinen Fluten habe ich gebadet und wurde rein.

Mit seinen Schiffen habe ich Handel getrieben und wurde reich.

In seinen Spiegel habe ich geschaut und mich erkannt.

Haltet fest an diesem Brauch und ehret diesen Ort.

Morgen gehe ich auf meine letzte Reise,

denn mein letztes Stündlein wird bald schlagen.

Folget mir nach, wenn Eure Zeit reif ist,

denn in den Mühlen der Geschäftigkeit verirrt sich der Geist.“

 

Nach diesen Worten legte er die Schlüssel auf den Tisch, verteilte seinen Besitz an Kinder, Diener und Gefährten, umarmte sie zum Abschied und schenkte jedem Enkel ein Kleinod zum Andenken. Dann zog er sich zurück, entledigte sich seiner Kleider, nahm ein erholsames Bad und hüllte sich in ein schlichtes Leinengewand.

So vorbereitet legte er sich in sein seidenes Bett und schlief den Schlaf der Gerechten.

Im Morgengrauen machte sich der Greis auf zur Gratwanderung über den Berg der irdischen Wahrheiten. Hinter dem Haus erhob sich dieses Massiv, über das ein Pfad zum Pass der Endlichkeit führte. Dahinter ragte der Gipfel der Weisheit in die blaue Stille der Unendlichkeit. An den Flanken des Bergkammes breitete sich das pralle Leben aus: Auf der Ostseite leuchteten gelbe und rote Früchte aus grünen Stauden hervor, auf der Westseite hütete ein Urwald seine Geheimnisse. Der Greis beachtete beides nicht mehr. Er warf einen letzter Blick an den Ort seines irdischen Daseins und wanderte zielstrebig den einsamen Höhenweg entlang, genoss die reine Luft, tankte die lichte Wärme des Himmels, trank reines Quellwasser, nährte sich von Wegkräutern, sang ein Lied und ward sich selbst der beste Weggeselle.

Am Ende des stillen Pfades empfing ihn ein prächtiges Tor. Es lag zwischen den Stämmen uralter Linden, deren Äste sich ineinander schlangen, wie die Arme zweier Liebender. Im Gezweig der Krone prangten blassgelbe Blüten, deren Wohlgeruch ihn betörte. Tief atmete der Greis den balsamischen Lindenduft ein, dann trat er feierlich und gefasst durch die Baumpforte.

Ein Ort der Geborgenheit empfing ihn, an dem sich alle Wege trafen: Zur linken bildete eine hohle Korkeiche das Tor vom Aufstieg aus dem wilden Wald, zur rechten säumten Lorbeerbäume das Ende des Wegs aus dem Sumpfgebiet. Inmitten des Platzes lud ein Becken zum Bade, aus dessen Grunde bunte Mosaiken funkelten. Das Wasser sprudelte aus dem Maul eines Einhorns. Am Ende lud eine wohnliche Hütte unter einer riesigen Eibe zur besinnlichen Rast. Darinnen gingen drei Frauen ihrem Gewerbe nach: Die Älteste zog einen Faden aus dem Regenbogen und wickelte ihn auf eine Spindel. Die Mittlere stand am Webstuhl und verknüpfte die letzten Fäden des Tuches. Die Jüngste hockte mit wildem Blick auf dem Schneidertisch und zückte begierig die Schere

Der alte Mann ging auf die drei Frauen zu: „Guten Tag, darf ich für eine Nacht um Herberge bitten?“ Die Weberin lächelte ihn treulich an, als kenne sie ihn längst: „Willkommen im Gasthaus zur Ewigkeit, der Stoff für Deinen Mantel ist gerade fertig.“

„Mein Mantelstoff?“ fragte der Greis erstaunt, „woraus hast Du ihn denn gemacht?“ Die Weberin erklärte: „Es sind die Fäden Deiner Zeit, aus denen ich Dein Schicksal wob.“ Sein fragender Blick wanderte zur Spinnerin: „Und woher kommen die Farben?“ Die Älteste sah ihn beschwörend an: „Es waren Deine Gedanken, die Dein Dasein färbten, während ich Deinen Lebensfaden spann.“ Er überlegte:„So ist denn jeder Faden, den Du spinnst, einmalig und dies Tuch der Spiegel meines Lebens?“ Die beiden Frauen nickten und die Weberin verkündete: „So ist es, Mensch, und morgen sollst Du Deinen Mantel anlegen, damit der Bote Dich erkennt, wenn er Dich in die Ewigkeit geleitet.“

Der Wanderer zwischen den Welten betrachtete versonnen die Muster auf dem Gewebe. Dann begegnete er dem wilden Blick der Schneiderin, die ihm den letzten Lebensfaden abschneiden sollte. Ihre Schere ließ ihn erschaudern...

Die Weberin schnitt eine Kalebasse ab, halbierte das Gehäuse und kratzte die Samen heraus. Dann ging sie zur Quelle und füllte die Schalen. Lächelnd näherte sie sich dem Gast, reichte ihm den Trunk und beglückwünschte ihn für sein gutes Schicksal. Der Alte nahm die Erfrischung dankbar an. Kaum hatte er seinen Becher geleert, wurde ihm wunderlich froh ums Herz. Er fühlte sich seltsam beschwingt und bekam Lust zu tanzen, doch seine Muskeln waren schlaff und seine Füße brannten wie Feuer. Die Weberin schien sein Befinden zu erahnen und führte ihn zum Becken:

 

„Hier, nimm’ ein Bad aus gleichem Quell,

dann schwinden deine Schmerzen schnell.“

 

Der Greis setzte sich an den Beckenrand und ließ seine Füße ins Wasser baumeln. „Ah“, seufzte er, „wie gut das tut“. Schon wollte er seine Kutte abstreifen, da hielt er schamhaft inne. Während er noch darüber nachdachte, ob es schicklich sei, sich vor den Frauen zu entblößen, hob ein Windstoß das graue Gewand und trug es fort. Behutsam glitt er ins heilende Nass und aalte sich darin.

Als er dem Bade entstieg, fühlte sich der Alte so wohl und leicht, wie ein Ritter ohne Rüstung. Er schüttelte die dicken Tropfen ab wie ein nasser Pudel, streckte seine Arme der Sonne entgegen und ließ die feinen Wasserperlen im Winde trocknen. Zufrieden setzte er sich für ein Weilchen auf einen Stein, tankte Sonnenwärme, wie eine Eidechse im heißen Fels und dachte: ‚Sind die Freuden nicht herrlich, welche die Natur uns schenkt?’ Zurück bei den schlichten Anfängen unseres Daseins fragte er sich nun, wozu er in seinen besten Jahren einen Palast mit orientalischen Teppichen, goldenen Löffeln und seidenen Betten gebraucht hatte...

‚Damals freute ich mich daran’, dachte er, ‚doch jetzt ist es mir egal. Hauptsache ist, loslassen zu können, wenn das Ende naht. Wie mühsam wäre diese Reise doch gewesen, hätte ich mich mit Reichtümern belastet. Kann man diesen Ort überhaupt erreichen, wenn man nicht so frei ist, den letzten Weg völlig unbeschwert zu gehen? Die Schneiderin brachte den fertigen Mantel und hüllte den Alten in seine Erinnerungen. Die Spinnerin zauberte eine Abendspeise und sie genossen das Festmahl. Nach dem Schmaus fragte er, mit wem er mit Verlaub das Vergnügen habe...

„Wir sind die Schicksalsfeen“, sagten sie wie aus einem Munde. „Man nennt uns Moiren, Nornen, Parzen – egal wie man uns nennt, unsre Aufgaben sind stets die gleichen:

„Die erste spinnt, was der Mensch sich erdacht,

die zweite webt, was der Mensch daraus macht,

Die dritte näht, was er damit erreicht,

kein Mantel je einem andern gleicht.“

 

Dann reichte ihm die Schneiderin ein Fernrohr und sprach:

„Schau noch einmal zurück auf Dein Leben,

danach wird es kein Zurück mehr geben.

Da sah er alle wichtigen Stationen seines Lebensweges vor dem inneren Auge vorüber ziehen und bewertete sie mit einer Klarheit, die er zuvor nie gehabt hatte. Die Weberin führte ihn zu seinem Lager und im Schlaf verabschiedete er sich von dieser Welt. Am Morgen schritt er durch das Tor der Welteibe, reichte dem Himmelsboten die Hand und schwebte als Lichtgestalt davon.


Dieses Märchen wurde mir von Marion Wolf zur Verfügung gestellt.
Das Copyright dieses Märchens liegt bei der Autorin: http://dichterseele.beepworld.de

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