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Die Geister des gelben Flusses
Märchen aus China


Die Götter des gelben Flusses heißen Daiwang (Großkönig). Seit vielen hundert Jahren nämlich berichten die Flussaufseher fortwährend, dass in den Wellen des Flusses sich allerlei Ungetüme zeigten, zuweilen in der Gestalt von Drachen, zuweilen in der Form von Rindern und Pferden, und immer wenn solch ein Wesen sich zeigt, folgt eine große Überschwemmung. So baute man denn dem Fluss entlang Tempel. Die höchsten der Flussgeister werden als Könige verehrt, die niederen als Feldherrn, und es vergeht fast kein Tag, wo nicht Opfer oder Schauspiele ihnen zu Ehren dargebracht werden.

Jedes Mal, wenn nach einem Dammbruch es gelingt, die Öffnung zu schließen, so entsendet der Kaiser Beamte mit Opfern und zehn Stangen großen tibetanischen Weihrauchs. Dieser Weihrauch wird in einem sehr großen Opferkessel im Tempelhof verbrannt, und die Flussaufseher und ihre Untergebenen gehen alle in den Tempel, um den Göttern für ihre Hilfe zu danken. Diese Flussgötter, heißt es, sind treue und gerechte Diener früherer Herrscher, die bei ihren Mühen um Eindämmung des Flusses gestorben sind. Nach ihrem Tode wurden ihre Geister Flusskönige; ihre leibliche Gestalt aber gleicht Eidechsen, Schlangen und Fröschen.

Der mächtigste unter diesen Flusskönigen ist der goldene Drachenkönig. Er erscheint häufig in der Gestalt einer kleinen goldenen Schlange mit viereckigem Kopfe, niedriger Stirn und roten Punkten über den Augen. Er kann sich nach Belieben gross und klein machen und kann das Wasser steigen und fallen lassen. Unversehens erscheint und verschwindet er. Er lebt an den Mündungen des gelben Flusses und des Kaiserkanals. Außer ihm gibt es aber noch Dutzende von Flusskönigen und Feldherrn, von denen jeder seinen bestimmten Platz hat. Die Schiffer auf dem gelben Flusse haben alle ausführlichen Listen, in denen das Leben und die Taten dieser Flussgeister einzeln aufgeführt sind.

Einer dieser Flusskönige heißt der Stauer. Vor zweihundert Jahren hatte der gelbe Fluss ein Loch in den Damm gerissen, und immer wenn es gerade daran war, dass man die Öffnung zufüllte, brach das Wasser wieder durch. Der Flussaufseher ging in den Tempel zu beten. Da hatte er bei Nacht einen Traum.

Er hörte eine Stimme, die sprach: »Der Stauer muss kommen, dann erst wird es gehen. Der ist ein Knabe aus dem Volk und heuer dreizehn Jahr alt.«

Als der Aufseher erwachte, da wunderte er sich über den Traum.

Eines Tages ging er wieder hinaus, um die Arbeit an den Dämmen zu beaufsichtigen. Abends kam er zurück.

Da hörte er plötzlich eine Frau rufen: »Stauer, komm!«

Sofort hieß er nachfragen, und es stellte sich heraus, dass das der Name eines armen Knaben war, den seine Mutter zum Abendessen gerufen hatte. Er kaufte ihn seinen Eltern ab für dreißig Lot Silber, und am andern Tag wurde Stauer mit hinausgenommen an den Fluss. Man warf ihn in das Wasser, und Tausende von Arbeitern mussten sofort Erde darüber schütten. Im Augenblick hatte sich die Öffnung im Damm geschlossen und die Strudel beruhigt. Dann aber sah man mitten im Fluss eine ungeheure Hand hervortauchen, die war wohl ein paar Klafter lang. Die Menge der Arbeiter schrie vor Entsetzen auf. Der Flussaufseher aber und seine Beamten warfen sich auf die Knie und beteten an. Daraufhin wurde der Knabe zum Flussgott ernannt.



Vor etwa hundert Jahren riss der gelbe Fluss abermals ein Loch in die Dämme. Dem Flussaufseher wurde zur Strafe sein Rangknopf genommen, und er ward verurteilt, den Damm wieder auszubessern. Aber die Öffnung Schloss und Schloss sich nicht. Der Mann war treu und ehrlich und beaufsichtigte Tag und Nacht die Arbeit. Immer, wenn man gerade dabei war, die letzte Öffnung zuzuschütten, da sank der Damm wieder zusammen, und das Wasser brach aufs Neue durch. Starr stand der Beamte daneben, ohne sich zu regen. Seine Diener mussten ihn beim Arme nehmen und nach Hause führen.

Es war Abend geworden, und die Flussarbeiter hatten sich zerstreut. Da schlich er sich heimlich aus dem Hause und stürzte sich in den Fluss. Seine Diener eilten ihm nach, erreichten ihn jedoch nicht mehr. Am Tag darauf Schloss sich der Dammbruch. Die Tat ward später bei Hofe bekannt, und der Beamte ward zum Feldherrn des gelben Flusses ernannt.

Die Flussgeister lieben es, Schauspielen zuzusehen. Jedem Tempel gegenüber ist eine Schaubühne errichtet. In der Halle steht das Geistertäfelchen des Flusskönigs, auf dem Altar davor eine kleine Goldlackschale mit reinem Sand gefüllt. Wenn man darin ein Schlänglein erblickt, so ist der Flusskönig da. Die Priester schlagen dann die Glocke und rühren die Pauke und lesen aus den heiligen Büchern vor. Sofort wird dem Beamten Nachricht überbracht, und er bestellt eine Schauspielertruppe. Vor Beginn des Spiels steigen die Schauspieler zum Tempel empor, beugen ein Knie und bitten den König, ein Spiel zu bezeichnen; dann sucht der Gott eines aus und deutet mit dem Kopf darauf. Sonst schreibt er wohl auch mit dem Schwänze Zeichen in den Sand. Die Schauspieler beginnen dann sofort mit dem gewünschten Stück.

Er fragt nicht nach Glück und Unglück der Menschen. Plötzlich kommt er, plötzlich geht er, wie es ihm gefällt.

Es war einmal ein Bauer, der ging mit seinem Schubkarren auf den Markt. Plötzlich erschien der Flusskönig auf dem Strohhut des Bauern, ohne dass dieser es merkte. Die Leute, die ihm auf der Straße begegneten, riefen ihm zu und verneigten sich vor dem Gott. Darauf wurde der Strohhut in den Tempel gebracht und ein Schauspiel gegeben.

Zwischen dem äußeren und dem inneren Damm des gelben Flusses sind viele Ansiedlungen. Oft kommt es nun vor, dass das gelbe Wasser bis an den Rand der inneren Wälle geht. Senkrecht aufgerichtet wie eine Mauer, so rückt es allmählich vor. Wenn die Leute es sehen, so verbrennen sie schleunigst Weihrauch und verneigen sich betend gegen das Wasser und versprechen dem Flussgott ein Schauspiel. Dann zieht das Wasser sich zurück, und es geht die Rede: »Der Flussgott hat wieder ein Schauspiel verlangt.«

In jener Gegend steht ein Dorf. Da wohnte einst ein reicher Mann. Der baute rings um das Dorf eine steinerne Mauer, zwanzig Fuß hoch, um das Wasser abzuhalten. Er glaubte nicht an die Flussgeister, sondern verließ sich auf die feste Mauer und war ganz unbesorgt.

Eines Abends kam plötzlich das gelbe Wasser heran und stand senkrecht vor dem Dorfe. Der Reiche ließ mit Kanonen darnach schießen. Da wuchs das Wasser wild und umgab rings die Mauern so hoch, dass es bis an die Öffnungen der Zinnen reichte. Das Wasser brauste und zischte und war nahe daran, sich über die Mauern zu ergießen. Da geriet das ganze Dorf in großen Schrecken. Man schleppte den reichen Mann herbei; er musste niederknien und um Verzeihung bitten. Man versprach ein Schauspiel, es half nichts; man versprach dem Flussgott einen Tempel zu bauen mitten im Dorfe und regelmäßig Schauspiele aufzuführen, da sank das Wasser nach und nach und wich zurück. Das Getreide vor dem Dorf hatte keinen Schaden erlitten; sondern, es gab gedüngt von dem gelben Schlamme, eine doppelte Ernte.

Ein Gelehrter ging einst mit einem Freunde über Feld, um seine Verwandten zu besuchen. Da kamen sie an einem Flussgott-Tempel vorbei, wo gerade ein neues Schauspiel gegeben wurde. Der Freund forderte ihn auf, mit hinzugehen und sich die Sache anzusehen. Sie traten in den Tempelhof, da sahen sie oben an den beiden Vordersäulen zwei grüne Schlangen, die sich um die Säulen gewickelt hatten und den Kopf hervor streckten, als sähen sie dem Schauspiel zu. In der Tempelhalle stand der Altar mit der Sandschale. Darin lag ein Schlänglein mit goldenem Leib, grünem Kopfe und roten Punkten auf der Stirn. Es hatte den Hals emporgereckt, und seine blitzenden Äuglein waren unverwandt nach der Schaubühne gerichtet. Der Freund verneigte sich, und der Gelehrte tat es ihm nach.

Leise fragte er dann seinen Freund: »Wie heißen denn die drei Flussgötter?«

»Der im Tempel«, war die Antwort, »ist der goldene Drachenkönig. Die beiden auf den Säulen sind zwei Feldherren. Sie wagen es nicht, mit dem König zusammen im Tempel zu sitzen.«

Der Gelehrte verwunderte sich darob und dachte in seinem Herzen: »Solch ein kleines Schlänglein! Wie kann das Götterkraft besitzen! Es müsste erst seine Macht beweisen, ehe ich es verehre.«

Noch hatte er diese geheimen Gedanken nicht ausgesprochen, da sah er plötzlich, wie das Schlänglein in der Schale den Kopf über den Altar herausstreckte. Vor dem Altar brannten zwei riesige Kerzen. Sie waren über zehn Pfund schwer und dick wie kleine Bäume. Ihr Feuer brannte wie Fackelschein. Die Schlange streckte nun den Kopf mitten in die Kerzenflamme hinein. Die Flamme war wohl einen Zoll breit und brannte rot. Plötzlich wurde ihr Schein blau und teilte sich in zwei Zungen. So riesig war die Kerze und so heiß das Feuer, dass auch Kupfer und Eisen darin geschmolzen wären; aber der Schlange tat es nichts.

Dann kroch sie in den Weihrauchkessel. Der Weihrauchkessel war von Eisen, so groß, dass man ihn mit beiden Armen eben umfassen konnte. Der Deckel zeigte in durchbrochener Arbeit ein Drachenornament. Die Schlange kroch durch die Löcher dieses Deckels hin und her und wand sich durch alle durch, so dass es aussah wie eine Stickerei von Goldfäden. Schließlich waren alle Öffnungen des Deckels, gross und klein, von der Schlange durchzogen. Sie musste sich dazu wohl mehrere Dutzend Fuß lang gemacht haben. Dann streckte sie den Kopf oben heraus und sah dem Schauspiel weiter zu.

Da erschrak der Gelehrte, verneigte sich zweimal und betete: »Großer König, du hast dich meinethalb bemüht. Ich ehre dich von Herzen.«

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, da war im Augenblick das Schlänglein wieder in der Schale und war so klein als wie zuvor.

In Dsiningdschou wurde im Tempel des Flussgottes Geburtstag gefeiert. Man brachte dem Gott als Geburtstagsgeschenk ein Schauspiel dar. Die Zuschauer standen dicht gedrängt wie eine Mauer. Da kam ein einfältiger Bauer vom Lande vorüber, der sprach mit lauter Stimme: »Das ist doch nur ein ganz kleiner Wurm. Es ist eine große Dummheit, den als König zu verehren!«

Aber ehe er fertig gesprochen hatte, da flog die Schlange aus dem Tempel heraus. Sie wuchs und wuchs und wickelte sich dreimal um die Schaubühne. Sie ward dick wie ein großer Eimer, und ihr Haupt glich einem Drachen. Die Augen sprühten wie goldene Lampen, und mit der Zunge spie sie rote Flammen aus. Sie streckte sich und zog sich wieder zusammen, da zitterte die Schaubühne, und es sah aus, als wollte sie einstürzen. Die Schauspieler unterbrachen die Musik und fielen auf der Bühne anbetend nieder. Die ganze Menge ward von Entsetzen gepackt und verneigte sich zur Erde. Dann kamen einige Älteste, die warfen den Bauer zu Boden und peitschten und pufften ihn halbtot. Da warf er sich vor der Schlange nieder und betete zu ihr. Es entstand ein Geräusch, wie wenn heftiges Feuerwerk abgebrannt würde. Das dauerte eine geraume Zeit, dann war die Schlange verschwunden.

Im Osten von Schantung liegt die Stadt Döngdschoufu. Dort ist ein Aussichtsturm mit großem Tempel. Zu seinen Füßen liegt die Wasserstadt, die hat im Norden ein Meertor, zu dem die Flut bis in die Stadt hereinkommt. Ein Lager der Strandwache liegt an diesem Tore.

Es war einmal ein Offizier, der war als Hauptmann hierher versetzt worden. Er gehörte früher zum Landheer und war noch nicht lange auf diesem neuen Posten. Er gab einigen Freunden ein Gastmahl. Vor dem Pavillon lag ein großer Stein, der hatte die Form eines Tisches. Plötzlich sah man auf diesem Stein ein Schlänglein sich ringeln, das war grün gefleckt und hatte auf dem viereckigen Kopfe rote Punkte. Die Soldaten wollten das Tierchen töten. Der Hauptmann ging hinaus, um nach der Sache zu sehen.

Dann sprach er lachend: »Ihr dürft ihm nichts tun! Das ist der Flusskönig von Dsiningdschou. Als ich in Dsiningdschou stand, hat er mich manchmal besucht, und ich habe ihm zu Ehren dann immer Opfer und Schauspiele dargebracht. Nun kommt er eigens her, um mir Glück zu wünschen und nach seinem alten Freunde zu sehen.«

In dem Lager war eine Musikkapelle; die Leute konnten singen und tanzen wie eine richtige Schauspielertruppe. Der Hauptmann ließ schleunigst ein Schauspiel beginnen und richtete ein anderes Festmahl mit Wein und köstlichen Speisen her und bat den Flussgott, Platz zu nehmen.

Es ward allmählich Abend, und der Flussgott machte noch keine Miene, zu gehen.

Da trat der Hauptmann mit einer Verbeugung zu ihm und sprach: »Wir sind hier weit vom gelben Fluss entfernt, und die Leute haben noch nie Euren Namen nennen hören. Es war mir eine große Ehre, dass Ihr mich besucht habt. Aber die Weiber und Toren, die sich da gaffend versammelt haben, fürchten sich, von Euch zu hören. Ihr habt nun Euren alten Freund ja besucht und mögt nun wieder zurückkehren.«

Mit diesen Worten ließ er eine Sänfte kommen; man schlug die Pauken und verbrannte Feuerwerk, schließlich schoss man noch neun Kanonenschüsse ab, um ihm das Geleite zu geben. Da stieg das Schlänglein in die Sänfte, und der Hauptmann folgte hinten nach. So kam man an den Hafen, und als man eben Abschied nehmen wollte, da schwamm die Schlange schon im Wasser. Sie war viel größer geworden als vorher, nickte dem Hauptmann mit dem Kopfe zu und verschwand.

Da gab's ein Zweifeln und Fragen: »Der Flussgott wohnt doch tausend Meilen weit von hier, wie kommt er denn hierher?«

Der Hauptmann aber sprach: »Der ist so mächtig, dass er überallhin kann, und außerdem führt ja von dort ein Wasserweg ins Meer. Diesen Weg herunterzukommen und durchs Meer zu schwimmen, das bringt der im Augenblick fertig.«