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Die Schlange


Es war einmal ein Kaufmann, der hatte drei Töchter. Als er eines Tages auf die Reise ging, um seine Geschäfte zu betreiben, fragte er seine Töchter, was er ihnen mitbringen sollte. Die älteste bat ihn um einen Unterrock, die zweite dagegen um ein Schmuckstück, die jüngste aber sagte: »Ich wünsche mir nichts als ein paar Rosen; jetzt sind sie wohlfeil auf dem Markt.«

Nun gut, der Vater ritt fort und wickelte seinen Handel ab, dann kaufte er die Geschenke, die er seinen Töchtern versprochen hatte. Nachdem er sich auf den Heimweg gemacht hatte, kam ein so heftiger Hagelsturm, dass ihm sein Rosenstrauß ganz zerschlagen wurde. Der Sturm wurde immer heftiger, und der Kaufmann war froh, als er endlich ein Tor erblickte und unter ein Obdach flüchten konnte. Er versorgte sein Pferd und ging dann ins Innere des Hauses, konnte jedoch niemand darin treffen. Da er hungrig war, aß er von den Speisen, die er auf der Tafel vorfand, und trank von den Getränken. In der Zwischenzeit hatte sich der Sturm gelegt, so dass der Kaufmann an eine Fortsetzung seines Heimweges denken konnte. Er sattelte also sein Pferd und wollte gerade abreiten, da sah er im Garten einen Rosenstrauch stehen und dachte an die Bitte seiner jüngsten Tochter.

Er ging hin und pflückte einen Strauß Rosen ab. Kaum war dies geschehen, da erschien eine Schlange und sprach: »0 du undankbarer Mensch! Genügt es dir nicht, dass du in meinem Hause Obdach, speise und Trank gefunden hast? Musst du mir auch noch meine liebsten Rosen missgönnen und sie abreißen?« Der Kaufmann antwortete: »Hätte ich dich früher gesehen, dann würde ich dich um Erlaubnis gefragt haben. « - » Gib acht, was ich dir sage«, entgegnete die Schlange, »du hast die Rosen für deine jüngste Tochter gepflückt; nun sollst du sie mir hierher bringen. Solltest du dich weigern, würde ich dich aufsuchen und dich töten.« Da der Kaufmann eine große Furcht hatte, sagte er ja, was konnte der Ärmste auch sonst schon sagen?

Zu Hause angelangt, kamen sogleich die beiden ältesten Mädchen angelaufen und verlangten ihre Geschenke. Die Jüngste dagegen wartete schüchtern. »Komm her, liebe Tochter«, sprach der Vater, »hier sind auch die Rosen, die du dir gewünscht hast«, und dabei fing er an zu weinen. Die Tochter fragte ihn, warum er weine, und er erzählte ihr ausführlich, was ihm auf dem Heimweg zugestoßen war. Sobald die Schwestern das erfuhren, schmähten und verhöhnten sie die jüngste und sagten: »Du hochmütiges Ding, hättest du dir Schmuck oder Kleidung gewünscht wie wir, so müsstest du nicht zu der Schlange gehen!« Das Mädchen aber, das sehr verständig war, kehrte ihnen den Rücken und ging ins Haus, um ihr Bündel zu schnüren. Als sie alles, was sie brauchte, beisammen hatte, bat sie den Vater, das Pferd wieder zu satteln, nahm Abschied von ihren Schwestern und zog zu dem Palast der Schlange. An Ort und Stelle angelangt, führten sie das Pferd in den Stall und traten ins Haus hinein, wo sie wieder die Speisen vorfanden, ohne einen Menschen zu sehen. Bald jedoch stellte sich die Schlange ein und sprach: »Ich sehe, du hast meinen Willen erfüllt. Nun kannst du getrost nach Hause zurückkehren!« Hierauf nahm er Abschied, während das Mädchen bei der Schlange blieb.

Nach nicht langer Zeit verfiel der Vater aus Kummer und Schmerz über die Abwesenheit seiner Lieblingstochter in eine schwere Krankheit und musste sich zu Bett legen. Die Schlange aber pflegte, wenn das Mädchen aß, sich auf ihren Schoß zu legen und sie zu fragen: »Nimmst du mich zum Manne, Liebste?« Aber das Mädchen antwortete immer: »Ich habe Angst vor dir.« Eines Tages nun fand das Mädchen in einer Schublade einen Spiegel, in dem sich die ganze Welt spiegelte, auch ihren Vater konnte sie darin sehen, und sie wurde traurig, weil er so krank zu Bett lag. Sie weinte so bitterlich, dass die Schlange aus dem Garten gekrochen kam und fragte: »Was fehlt dir, mein liebes Röschen?« - »Schau hier in den Spiegel! Siehst du nicht, dass mein Vater krank ist?« Da sagte die Schlange zu ihr: »öffne einmal jene Schublade dort. Da findest du einen Ring; den stecke dir an den Finger und sage mir, wie lange du wegbleiben wirst.« - »So lange, bis mein lieber Vater wieder gesund ist«, antwortete das Mädchen. Da sprach die Schlange: »Sobald dein Vater dich wieder erblickt, wird er augenblicklich wieder gesund werden. Dann gebe ich dir noch eine Frist von einunddreißig Tagen. Kommst du bis dahin nicht zurück und bleibst du nur einen einzigen Tag länger, so findest du mich tot.« - »Da sei der Himmel vor!« rief das Mädchen. »Sei sicher, dass ich vor Ablauf der Frist wieder bei dir bin.«

»Nun gut«, versetzte die Schlange, »iss jetzt erst zu Mittag, und dann werde ich dir sagen, was du weiter zu tun hast!« Nachdem das Mädchen gegessen hatte, sprach die Schlange zu ihr: »Lege dich in dein Bett und nimm den Ring in den Mund, dann wirst du dich alsbald in deinem alten Zimmer wiederfinden.« Das Mädchen tat, wie die Schlange geraten hatte, und gelangte so ins Haus ihres Vaters zurück. Sobald ihr Vater sie erblickte, wurde er gesund und fragte sie, wie es ihr ginge. Sie erzählte nun von der Schlange und dass diese sich immer in ihren Schoß lege und sie frage: »Nimmst du mich zum Manne?« und dass sie bisher stets geantwortet habe: »Ich habe Angst vor dir«, worauf sich die Schlange immer seufzend entferne. Als der Vater dies vernahm, sprach er: »So sage doch einmal zu der Schlange, dass du sie zum Manne nimmst; wir wollen sehen, was dann daraus wird.« Das Mädchen versprach, dies zu tun. Als ihre Schwestern alles gehört hatten, rieten sie, nicht mehr zur Schlange zurückzukehren, denn auf diese Weise wäre sie doch tot und die Schwester frei und ledig. Aber die jüngste sagte: »Warum sollte ich wohl die arme Schlange sterben lassen, die sich mir so freundlich und hilfsbereit erwiesen hat?« Und sie blieb bis zu jenem Tag, den ihr die Schlange bezeichnet hatte, bei ihrem Vater, dann nahm sie von diesem und ihren Schwestern Abschied, legte sich ins Bett und nahm den Ring in ihren Mund, worauf sie sogleich wieder bei der Schlange war. Als diese sie erblickte, rief sie freudig aus: »Bist du da, mein liebes Röschen?« Und als das Mädchen speiste, legte sich die Schlange wieder in ihren Schoß und fragte: »Willst du mich zum Manne, Liebste?« Da nun das Mädchen antwortete: »Ei freilich!«, warf die Schlange sofort ihre Haut ab, und ein schöner Königssohn stand vor ihr. Zugleich bevölkerte sich der Palast mit Dienern und Leuten. Verwundert fragte das Mädchen den Prinzen, wer er wäre und warum er in eine Schlange verwandelt worden sei. Er erzählte ihr, dies sei die Folge einer Verwünschung gewesen, weil er eine Waise verführt habe; und wenn er nicht eine Frau gefunden, die ihn zum Manne haben wolle, hätte er immer in der Schlangenhaut bleiben müssen. Nun war er von dem Fluche erlöst, und er ließ gleich den Vater und die Schwestern seiner Braut holen und die Hochzeit vorbereiten. Die Schwestern aber wurden ganz gelb vor Neid, als sie von dem Glück der jüngsten hörten, und sie beschlossen, ihr einen bösen Streich zu spielen. Aber dazu kam es nicht, denn der Prinz, der gelernt hatte, Gut und Böse zu unterscheiden, verwandelte sie in zwei Krähen. Röschen und ihr Vater fingen bitterlich zu weinen an, als sie dies sahen, aber der Prinz sagte, sie müssten büßen, bis sie sich von ihren bösen Wünschen gereinigt hätten. Dann veranstaltete man eine große Hochzeit, und der Prinz machte seinen Schwiegervater zum Minister, und alles ging bei ihnen aufs beste; hier jedoch finde ich es noch besser.


Dieses Märchen wurde mir von Dieter [chax@wtal.de] zur Verfügung gestellt.